Bigotterie der Mittelschicht

Im Streit über das Kindergeld für EU-Ausländer werden ständig die Ebenen vermischt und wird eine bigotte Osteuropa-Aversion befeuert. Eine Betrachtung

In 40 Fällen stießen Ermittler auf gefälschte Geburtsurkunden Foto: Bernd Friedel/imago

Von Barbara Dribbusch

Wer wissen will, wie sich eine Hetzdebatte entwickelt, muss sich den Streit über das Kindergeld für EU-Ausländer anschauen. Duisburgs SPD-Oberbürgermeister Sören Link warnte vor Schleppern, die gezielt Sinti und Roma dazu anstifteten, mit gefälschten Dokumenten Kindergeld zu erschleichen. Nun fordern die Arbeitgeber und mehrere Politiker Kürzungen am Kindergeld für EU-Ausländer, wenn der Nachwuchs nicht in Deutschland lebt.

Es ist auffällig: Wenn es um billige Pflegerinnen und Handwerker geht, dann kommen osteuropäische Arbeitskräfte gerade recht. Aber bei Sozialleistungen wird schnell Missbrauch unterstellt.

Alles fing an mit einem überschaubaren Fall von Sozialmissbrauch: In Düsseldorf und Wuppertal überprüften die Behörden die Kindergeldanträge von EU-Ausländern, die sich in auffällig großer Zahl in bestimmten Wohneinheiten angemeldet hatten, die als „Schrottimmobilien“ bekannt waren, erklärte ein Sprecher der Bundesagentur für Arbeit der taz. In 40 dieser 100 Verdachtsfälle stellten die Ermittler tatsächlich Betrugsversuche und Fälschungen von Geburtsurkunden fest. Das bedeutet aber nicht etwa eine Betrugsquote von 40 Prozent – schließlich waren die Verdachtsfälle keine repräsentative Stichprobe, sondern gezielt ausgewählt worden. Es handelte sich auch um Kinder, die angeblich in Deutschland lebten.

Die bundesweite Medienhatz gegen „Kindergeld für EU-Ausländer“, die darauf folgte, hatte mit der Kriminalität aus NRW sachlich nichts mehr zu tun. Gleichzeitig nämlich veröffentlichte das Bundesfinanzministerium Daten über Kinder, die im EU-Ausland wohnen und für die ein in Deutschland lebender Elternteil legal Kindergeld bezieht. Deren Anzahl ist innerhalb eines halben Jahres um 10 Prozent auf 268.336 gestiegen. Das ist nicht unerwartet, denn dank des Wirtschaftsbooms hat auch die Beschäftigung von EU-Ausländern in Deutschland zugenommen.

Die Medienhatz gegen „Kindergeld für EU-Ausländer“ hatte mit der Kriminalität aus NRW sachlich nichts mehr zu tun

Die Debatte über den angeblich massenhaften Sozialmissbrauch wurde mit einem anderen Streit vermischt: Es geht um die Frage, ob das in Deutschland gezahlte Kindergeld nicht niedriger ausfallen sollte, wenn der Nachwuchs nicht in Deutschland, sondern im Heimatland aufwächst, wo der Lebensstandard in der Regel niedriger ist. 194 Euro Kindergeld bekommt man in Deutschland für das erste Kind.

Die Bundesregierung hatte schon in der vergangenen Legislaturperiode versucht, die Kindergeldzahlungen an die Lebensverhältnisse in den jeweiligen Ländern anzupassen, also oft zu kürzen. Die EU-Kommission ist gegen eine solche Indexierung und hält sie nicht für mit EU-Recht vereinbar. Die Arbeitgebervereinigung BDA ist für eine Indexierung, der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Grünen sind dagegen. Der Vorschlag sei „falsch und nach deutschem Recht kaum umsetzbar“, sagte Parteichefin Annalena Baerbock.