Die Poesie der Blicke

Hamburgs bedeutendste Dichterin ist Lisel Mueller: In Deutschland so gut wie unbekannt hat die 94-Jährige in den USA die wichtigen Literaturpreise gewonnen

Von Benno Schirrmeister

Die berühmteste Hamburger Lyrikerin der Gegenwart heißt Lisel Mueller und ist in Hamburg völlig unbekannt. Seit 1953 dichtet sie, und seit den 1960er-Jahren veröffentlicht sie ihre reimlosen Poeme, zuerst im New Yorker, ab 1965 dann in Büchern. Fünf, sechs schmale Bände sind das bloß, aber die haben es in sich und wurden deshalb nacheinander mit dem National Book Award, dem Car Sandburg-, und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Lisel Mueller, geborene Neumann, hat ausschließlich auf Englisch veröffentlicht. Auf dem deutschen Buchmarkt gibt es nur eine mittelglückliche Auswahl, veröffentlicht 2006 unter dem Titel „Brief vom Ende der Welt“.

Mueller betont in ihrem Dichten stets auch ihre Herkunft, lässt sie die Sprache einfärben, und irgendwann einmal hat sie sogar einem Journalisten erzählt, sie habe erst mit dem Schreiben begonnen, als sie und ihr Mann, der 2001 verstorbene Musikwissenschaftler Paul Mueller, aufs Land gezogen waren und sich ein Haus gebaut hatten. Dort habe sie aus dem Fenster auf eine Weide mit Kühen schauen können, „and they were Holsteins“, also die Kühe, die sie von ihren Kindheitsferien in Norddeutschlands Tiefebene kannte. Die Vergangenheit ragte plötzlich ins neue Leben hinein – „that was my initiation“, so Mueller.

Gerne entnimmt sie ihr Motive den Traditionen, mit denen sie als Kind und Jugendliche in Kontakt gekommen war, den Grimmschen Volksmärchen etwa, deren unheimlichen Grundton sie im fabelhaften Zyklus der Stimmen aus dem Wald freilegt: „Egal wie erschöpft du bist / und selbst wenn du glaubst, du stirbst vor Durst / betritt nicht das Haus im Wald“, warnt gleich zu dessen Auftakt die Stimme der entkommenen Reisenden vor all dem Unheil, das im deutschen Wald droht.

Nein, Mueller spielt die Rolle der glücklich Entronnenen nicht bloß: Ihr Vater Fritz C. Neumann war ein wichtiger und radikaler Reformpädagoge. Neben seiner Tätigkeit an der Lichtwarkschule fungierte er auch illegal als Gründungsrektor der Marxistischen Abendschule. Nach seiner Begnadigung wieder im Hamburger Schuldienst tätig, warfen ihn die Nazis 1933 endgültig raus. Sein Versuch, sich und die Familie über Wasser zu halten, scheiterte 1937, als die Gestapo ihn verhaftete. Unverhofft wieder freigelassen, floh er, fand in den USA einen Job – und konnte, Wochen vor Kriegsausbruch die Familie nachholen.

Mueller macht ihre Fluchtgeschichte explizit zum Thema – am greifbarsten im Gedicht „Curiculum Vitae“: „1) I was born in a Free City, near the North Sea“, beginnt das – also: Ich wurde in einer Freien Stadt geboren, nahe der Nordsee. Und „2) In the year of my birth, money was shredded into confetti. A loaf of bread cost a million marks.“ (Im Jahr meiner Geburt wurde Geld zu Konfetti zerfetzt. Ein Laib Brot kostete eine Million Mark.)

Das war 1924, der 8. Februar, und wer mag, kann den exquisiten Bürokratismus der Stanzen-Durchnummerierung als maliziöse Referenz aufs Vaterland entziffern. Das Land sei, berichtet das Gedicht weiter, unter Punkt sieben, tödlicher von der Geschichte getroffen worden „als durch Hurrikane und Erdbeben“.

Hier kommt eine Information zum Tragen, die oft überlesen wird: „Curriculum Vitae“ ist im Jahr 1992 entstanden, das von Andrew geprägt war, den zerstörerischsten Tropensturm, den Florida bis dahin erlebt hatte. Und von den seismischen Aktivitäten, die Kalifornien monatelange erschüttert hatten, bis es Ende Juni dann zu den zwei Landers-Beben der Stärke 7,3 und 6,5 auf der nach oben hin offenen Skala kam. In dem einfachen, fast banalen Bild überblendet Mueller Weltgeschichte, Kindheitserinnerung und Unglück der Gegenwart – ohne dabei die historische Gräuel verharmlosend mit den Naturkatastrophen zu identifizieren.

Muellers vielleicht berühmtestes Gedicht heißt „Monet Refuses the Operation“ – und genau darum geht es. Schon 1912 war bei dem impressionistischen Maler ein beidseitiger Grauer Star festgestellt worden. Lange aber lehnt er eine Operation ab.

Im Gedicht spricht Mueller aus der Perspektive des Malers und nutzt die Anekdote zum Ausgangspunkt für ein künstlerisches Bekenntnis zur Fehlsichtigkeit: „Doctor“, klärt der Monet des Gedichts seinen namenlosen Augenarzt auf, „it has taken me all my life / to arrive at the vision of gas lamps as angels“ – also: es hat mich mein ganzes Leben gekostet / so weit zu kommen, in den Gaslampen Engel zu sehen.

Ginge es hier um Medizin, wäre das eine bloße anti-aufklärerische Mystifikation. Aber es geht, in feinsinniger Anspielung auf den Topos des Dichters als eines blinden Sehers, um eine Poetik der Alterität: Die Vision, die aus den Bildern gefeierte Kunstwerke macht, verdankt sich einer Fehlsichtigkeit, die um den Preis des Lebens erworben ist, wie eine zweite Sprache.

Second Language heißt der Band, in dem dieses Poem steht, 1996 ist er erschienen, und es ist Muellers letzter: Sie schreibt nicht mehr. Es heißt, weil sie erblindet ist.