Revolutionäres Sommerferienprogramm: Bohrer statt Barbie

Ambitioniert: Der Kunstverein Langenhagen wandelt auf den Spuren des italienischen Künstlers, Architekten und Pädagogen Ricardo Dalisi.

Objekte für Kinder mit Kindern: aus Riccardo Dalisis Buch „Architettura d’animazione“ (1974). Foto: Riccardo Dalisi/Kunstverein Langenhagen

Wenn man älter wird, neigt man vielleicht dazu, die eigene Kindheit in glückliches Licht zu rücken. Trotzdem: Mir brauchte etwa nie jemand zu sagen, wo, was und wie ich spielen könnte. Die Stadt meiner eigenen frühen Lebensjahre, Wilhelmshaven, bot auch Jahrzehnte nach Kriegsende noch weite Ruinengrundstücke, mysteriöse Kellersockel etwa und Treppenabgänge mitten im wucherndem Grün, und Flächen verwilderten Bewuchses, die wohl mal gepflegte Hausgärten waren.

Hier neuerlich Gebautes zu imaginieren, lag sicherlich nahe. Und so gingen wir regelmäßig daran, mit Decken, Planen, Schnüren und Stöcken Hütten zu bauen, mit ausgelegten Steinen neue Gärten abzustecken und uns gegenseitig in diese neuen Räume einzuladen.

Lassen sich heutige Kinder dazu noch begeistern, bringen sie überhaupt die nötige, ganz elementare Fantasie dafür mit? Diese Frage stellte sich Noor Mertens, Leiterin des Kunstvereins Langenhagen. Kombiniert mit dem Nachdenken, welche Aufgaben ein kleiner Kunstverein, abseits eines großstädtischen Zentrums, über sein institutionelles Pflichtprogramm hin­aus zu erfüllen habe: für seine Mitglieder, für Künstler, die Bevölkerung am Ort. Das Ergebnis: der noch bis Mitte August geöffnete „Freiraum für Gedanken und Bauwerke“ in den Räumen und dem Garten des Kunstvereins

Desolate Umgebung

Es ist ein sehr ambitioniertes Ferienprogramm für Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 14 Jahren und natürlich deren Eltern, das Mertens hier zusammen mit vielen wechselnden Künstler*innen aufgelegt hat. Thematisch wandelt man auf den Spuren des italienischen Architekten, Künstlers und Pädagogen Ricardo Dalisi aus Neapel: Als dieser Ende der 1960er-Jahre den Auftrag für einen nie realisierten Kindergarten im peripheren Neubauviertel Rione Traiano erhielt, kam er zum ersten Mal in diesen seit 1957 aus dem Boden gestampften Stadtteil. 24.000 Einwohner lebten dort in Sozial- und Notwohnungen, die Umgebung war trist bis desolat. Viele Kinder gingen nicht zur Schule, waren sich selbst überlassen.

Mit Studierenden aus seinen Seminaren an der Architekturfakultät fand Dalisi nach und nach das Vertrauen der Bewohner, vor allem der Kinder. In Workshops fingen sie an zu zeichnen – und zu bauen: freie Objekte, an die Wand gelehnt, in den Freiraum platziert, leichte Stab-, Flächen- oder Zeltkonstrukte. Viele anfänglich skeptische Kinder ließen sich mitreißen, schrieb Dalisi in seinem Tagebuch, sie inspirierten sich gegenseitig, Erwachsene wurden neugierig. Vor allem: Alle arbeiteten zusammen, hämmerten und werkelten in Zweier- und Dreiergruppen, behandelten gemeinsam Materialien in einer unkonventionellen Logik, die er selbst nicht für möglich hielt.

30. 7 – 3. 8.: Bauzeit mit Lotte Lindner und Till Steinbrenner, Hannover

6. 8.–10. 8.: Freie Bauzeit mit 16 Absolventinnen der Akademie Breda, Niederlande

14. 8. – 16.8.: Bauzeit mit Thomas Geiger, Wien, und Eröffnung „Kunsthalle3000“

Kunstverein Langenhagen, Walsroder Strasse 91a

kunstverein-langenhagen.de

Sozialer Katalysator

Diese Selbstermächtigung, die eigene Umgebung mit eigener Kraft positiv verändern zu können, war der soziale Katalysator und stimulierte neue Eigeninitiativen, etwa selbst angelegte Gärten. Trotz breiter Resonanz in den Medien wurde das Projekt 1974 von den italienischen Behörden untersagt. Dalisi veröffentlichte im selben Jahr seine Aufzeichnungen und viele Fotografien unter dem Titel „Architettura d’animazione“. Ob unter heutigen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Vorzeichen so etwas überhaupt noch denkbar wäre? Das sei nur am Rande gefragt.

Mertens und die beiden Künstlerinnen Christiane Oppermann und Sabine Müller blicken gerade auf die zweite Woche ihrer Langenhagener Bauaktivitäten zurück. Sie wollen natürlich keinen verklärten Vergleich mit Dalisis Zeiten und Möglichkeiten ziehen. Langenhagen ist ja kein Problembezirk im Speckgürtel Hannovers, hier wächst der Nachwuchs wohl eher überbehütet auf.

Sie bemerken aber, dass Kinder heute offensichtlich ganz anders ticken. Viele haben nicht, oder noch nicht, den Mut gefasst, zusammen etwas zu bauen, ein größeres Gebilde gemeinsam in Angriff zu nehmen. Lieber wird beispielsweise ein Spielgerät für die eigene Katze konstruiert, das sich mit nach Hause nehmen lässt, die Dimension wird durch die Kofferraumgröße des elterlichen Autos bestimmt. Hier wollen die Künstler*innen der nächsten Wochen sanft gegensteuern.

In den allerersten Tagen haben zehn Kinder, zusammen mit dem örtlichen „Haus der Jugend“, eine kleine temporäre Zeltstadt im Garten gebaut, die dem Wind nicht so recht trotzen konnte. Dafür wurden Stoffe mit Tee oder Kurkuma gefärbt, mit einfachen Kartoffelstempeln ganz kunstvoll farbig bedruckt. Schnell stellte sich dieser textile Bereich als Domäne der Mädchen heraus. Die Jungen greifen lieber zu Hammer, Säge oder Akkuschrauber – und nehmen die Werkzeuge selbstbewussteren Mädchen ganz schnell wieder aus der Hand.

Durch Konsumwelten gendergeprägt

Auch dieser Gender-Aspekt ist eine Erkenntnis, die geschlechterseparierte Prägung durch Konsumwelten in Blau und Pink von frühen Kindesbeinen an, zeigt ihre Wirkung. Deshalb gilt auch hier: erhöhte Aufmerksamkeit.

Gemeinsam, so viel sei verraten, will die Bremer Bildhauerin Claudia Piepenbrock mit Jungs und Mädchen noch einen Klangwagen bauen, immerhin ist die städtische Musikschule als weiterer Partner gleich nebenan. Und auch das Hannoveraner Künstlerpaar Lotte Lindner und Till Steinbrenner wird etwas Größeres als kollektive Arbeit in Angriff nehmen.

Wer Zeit und Lust hat, ist gern in Langenhagen gesehen: zum Mitmachen, zum Schauen oder um sich anregen zu lassen. Sommerferien gibt es ja auch 2019 wieder.

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