So ein bisschen „drüber“ zu sein steht den Figuren

Mutter und Tochter – eine besondere Abhängigkeitsbeziehung: Deborah Levy erzählt eine ungewöhnliche Emanzipationsgeschichte

Deborah Levy: „Heiße Milch“. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 288 Seiten, 20 Euro

Von Carola Ebeling

Die flirrende Hitze des Sommers ist für Deborah Levy genau das richtige Klima, um den Verunsicherungen und psychologischen Verwicklungen ihrer Figuren nachzugehen: Die mediterrane Sonne leuchtet die Konflikte hell aus, den Figuren und Leser*innen scheinen im grellen Licht und angesichts der hohen Temperaturen aber auch zuweilen die (Realitäts-)Sinne zu schwinden.

In ihrem 2013 erschienenen Roman „Heim schwimmen“, der sich wie ihr aktuelles Buch auf der Shortlist des renommierten Man Booker Prize platzieren konnte, siedelte die 1959 in Südafrika geborene und seit Langem in England lebende Autorin ihre Figuren im sommerlichen Nizza an und erzählte von der Aufstörung einer familiären Urlaubs­idylle.

In ihrem neuen Roman, „Heiße Milch“, lässt sie Mutter und Tochter nach Andalusien reisen. Der Konflikt ist hier gleich zu Beginn offenbar: Seit sie denken kann, erlebt Sofie ihre Mutter Rose als eine Leidende, ihre Symptome sind von unüberschaubarer Vielzahl, übertroffen nur noch von der Flut der Medikamente. Vor vielen Jahren hat der griechische Vater die Familie verlassen. Sofie hat den griechischen Nachnamen geerbt und ein paar Brocken der Sprache; ihre Mutter ist dauerhaft in das Haus mit der „Anschrift Kränkungshöhe“ eingezogen: „Werde ich ebenfalls dort wohnen müssen? Wirklich? Hatte Rose mich schon für die nächste freie Wohnung auf der Kränkungshöhe angemeldet? […] Ich musste meinen Namen von der Warteliste streichen, dieser langen Schlange hoffnungsloser Töchter, die bis an den Beginn der Zeit zurückreicht.“

Sofie, Mitte zwanzig, ist die Geisel der mysteriösen Krankheiten ihrer Mutter, die meist nicht laufen kann, manchmal aber doch. Ihretwegen hat sie ihre Dissertation in Anthropologie abgebrochen und jobbt in einem Londoner Café. Manchmal hinkt sie wie Rose. Ziel der gemeinsamen Reise ist Dr. Gómez, eine so elegante wie irritierende Erscheinung, letzte Hoffnung auf Heilung und von verblüffender Hellsichtigkeit bezüglich der fatalen Mutter-Tochter-Abhängigkeitsbeziehung. Kühner solle Sofie werden, etwa einen Fisch auf dem Markt stehlen. Sie tut es.

Levy erzählt eine ungewöhnliche Emanzipationsgeschichte, in der Sofie immer mehr aus ihrer Passivität heraustritt. Sie verliebt sich in Ingrid, verstört von deren Ambivalenz und doch zunehmend gestärkt durch die Intensität ihres eigenen Begehrens. Sie empfindet Wut auf den Vater, der auch sie verlassen und aus seinem Leben getilgt hat. Und sucht die Konfrontation.

Levy, die auch für Theater und Fernsehen schreibt, erschafft atmosphärisch starke Bilder: Im gleißenden Sonnenlicht und in der Hitze des spanischen Sommers streifen ihre Figuren die Grenze zum Unwirklichen, immer wieder sind sie ein bisschen „drüber“. Und doch eindrücklich nah in ihren emotionalen Verstrickungen und gedanklichen Wendungen.

Levy liebt zudem das Spiel mit mythischen Figuren, besonders präsent ist die der Medusa. Medusen heißen die Quallen, die Sofie mit ihren Brandmalen versehren. Gleich der Medusa fühlt sie sich zu einem „Ungeheuer“ werden – als so überwältigend empfindet sie die eigenen neuen Gefühle, die ihr aber endlich Konturen verleihen. Wer kann sie sein, wenn sie nicht mehr der Schutzschild ihrer Mutter ist und sich ihrerseits nicht mehr hinter dieser vermeintlichen Lebensaufgabe verschanzt.?

Das dem Roman vorangestellte Zitat stammt aus Hélène Cixous’ Werk „Das Lachen der Medusa“: „Es liegt an dir, die alten Kreisläufe zu durchbrechen.“ Levy zeigt ihre weibliche Hauptfigur in genau diesem Prozess. Sie macht das originell und feiert dabei unter anderem die sexuelle Potenz der Frauen, ihr Begehren, das schon immer als ungeheuerlich galt.