Architektonisches Eröffnungsspiel

Von der allmähliche Fertigung der Ideen beim Zeichnen. Skizzenbücher von zehn Architekten der Moderne

Marie-José Van Hee (*1950) Haus, ca. 1990, Bleistift und Buntstift auf Skizzenpapier, 205 x 298 mm Foto: Courtesy Drawing Matter/Tchoban Foundation

Von Ronald Berg

Die Digitalisierung ist am Berufsstand des Architekten nicht vorbeigegangen. Auch sein Gewerbe bedient sich mittlerweile des Computers. Doch wie der englische Titel der aktuellen Ausstellung in der Tchoban Foundation es treffend ausdrückt: Die „Opening Lines“ eines Entwurfs finden meist immer noch im Skizzenbuch statt.

Genau um diesen Ort, an dem sich architektonische Ideen zuerst materialisieren, geht es derzeit dem Museum für Architekturzeichnung anhand von rund 80 Zeichnungen und 140 Skizzenbüchern. Unter den vorgestellten „zehn Architekten der Moderne“ finden sich Größen wie Le Corbusier oder Hans Poelzig. Die Idee zu dieser Schau ist auf einer Farm im Westen Englands entstanden. Dort existiert mit der Sammlung „Drawing Matter“ ein Ort, der sich auf die Rolle der Zeichnung im Entwurfs­prozess konzentriert hat.

Niall Hobhouse, der Gründer, hat mit seiner Redakteurin, der Ex-Kuratorin am MoMA in New York Tina di Carlo, und Olivia Horsfall-Turner vom Londoner Turner Victoria and Albert Museum eine Ausstellung konzipiert, bei der es weniger um Architektur geht als um dieses schwierig zu umreißende Medium des Skizzenbuchs. Denn was alles als Skizzenbuch durchgehen kann, erstaunt, wenn man sich bei Tchoban so umsieht. Es kommen hier beileibe nicht nur kleine (Peter Märkli) oder größere Bücher oder Hefte zur Präsentation, sondern ebenso herausgetrennte Blätter (Corbusier, Poelzig), gefaltetes Packpapier (Alberto Ponis), Papierrollen oder auch ein bunt angemalter Schubladenkasten (Superstudio) und ein „anfassbares“ Faksimile (Niall McLaughlin) sowie Audio‑ und Videomaterial (Álvaro Siza), um das Medium Skizzenbuch seinem vielgestaltigen Wesen nach zu erläutern.

Nur schöne „Reinzeichnungen“ von vorteilhaft sich darstellenden Gebäuden gibt es nicht. Denn keines der Skizzenbücher war wohl jemals dafür gedacht, öffentlich ausgestellt zu werden. Das Skizzenbuch dient dem Architekten zur Ideenfindung und bestenfalls zur Kommunikation mit den Partnern und Angestellten im Büro. Bei Niall McLaughlin etwa zeigt die Ausstellung nicht nur eine reich bestückte Vitrine mit den unterschiedlichsten Skizzenbücher verschiedenster Art und Größe sondern auch eine Gemeinschaftszeichnung aus mehreren Schichten Transparentpapier in einem von unten erleuchteten Guckkasten. Die verschiedenen Entwurfsschichten und zeichnerische Handschriften werden so deutlich. Dass es dabei um die Gestaltung eines Heims für Alzheimerkranke geht, ist allerdings ohne Hilfe des Ausstellungsführers (übrigens selbst in Form ähnlich einem A5-Skizzenheft) wohl kaum herauszubekommen.

Was alles als Skizzenbuch durchgehen kann, erstaunt dann doch

Aber Skizzenbücher wie die von McLaughlin erlauben stattdessen einen fast voyeuristischen Blick auf ein Medium, in dem sich durch Skizzen, Notizen, mitunter auch Busfahrscheine und Kassenzettel Ideen entwickeln und zu Formen gerinnen. Der Blick in die Seiten der Skizzenbücher ist wie der Blick in die Gedankenwerkstatt des architektonischen Entwerfens. Nirgends ist man der Genese der Ideen so nahe wie bei den Skizzen, hier hat man so etwas wie den Geburtsvorgang dokumentiert, wenn die Gedanken aus dem Kopf hervorkommen und der Geist eine Form gebiert.

Es zeigt sich, dass schon auf der Skizzenebene die jeweilige Handschrift des Architekten sehr charakteristisch ausfallen kann. Le Corbusier zeichnet zum Beispiel bei seinen Entwürfen zum Gouverneurspalast von Chandigarh in Indien ganz fein und en miniature. Die belgische Architektin Marie José Van Hee dagegen benutzt brachiale Balkenstriche, um in immer neuen Anläufen ihr eigenes Haus zu entwerfen, so, als würde sie um eine Form kämpfen. Und ihre ebenfalls aus Belgien stammende Kollegin Riet Eeckhout wiederum sagt: „Wenn mich jemand zu meinem Skizzenbuch befragen würde, würde ich sagen, dass es leer ist.“ Eeckhout braucht offenbar den größeren Maßstab ihres ausgreifenden Arms und des eigenen Körpers. Die von ihr ausgestellte Zeichnung ist mehrere Meter lang und besteht aus einem Liniengespinst, das einige weiß gefärbte Flächen durchzieht. Ihre Papierbahn wirkt wie ein konstruktivistisches Kunstwerk. Gleichwohl scheint die Architektin mit dieser Form zu ihren Gedanken zu finden, denn die Ergebnisse sind unvorhergesehen und entwickeln sich, indem sie über und durch die Formen anderer Architekten zu zeichnen beginnt. Dem bei Tchoban gezeigten Beispiel liegt buchstäblich ein Bau von Frank Gehry zugrunde. Die Schau zeigt also auch in diesem Fall – wie bei allen anderen Skizzen – die allmähliche Fertigung der Ideen beim Zeichnen.

Bis 7. Oktober, Tchoban Foundation, Christinenstr. 18a, Mo.– Fr. 14–19, Sa. + So. 13–17 Uhr. www.tchoban-foundation.de