Teuflisch schön

Belgien erreicht mit dem dritten Platz bei der WM das beste Ergebnis seiner Geschichte. Den Engländern aber gehört die Zukunft

Belgien gegen England im Spiel um den dritten Platz: In Aktion: Kevin de Bruyne und Kieran Trippier Foto: Anton Vaganov/reuters

Von Frédéric Valin

Es ging, glaubt man dem belgischen Trainer Roberto Martínez, um alles und mehr. Alles werde man versuchen, um das beste belgische Ergebnis der Geschichte zu erreichen. Natürlich werde man mit der bestmöglichen Mannschaft auftreten, denn: „Jeder Fan Belgiens hat das Recht, mit einem Gefühl des Sieges aus dem Turnier zu gehen.“

Sein englischer Kollege Gareth Southgate tutete ins gleiche Horn: „Wir werden alles geben, um Dritter zu werden.“ Allerdings stellte er die Aufgabe ein wenig differenzierter dar: Es sei eben die Herausforderung, die Mannschaft mental wieder aufzurichten. Dass das keine einfache Aufgabe werden würde, machten die Spieler recht unverhohlen klar: Harry Maguire, englischer Innenverteidiger, wollte zur Bedeutung des Spiels nicht viel sagen: „Meine Meinung dazu behalte ich lieber für mich.“ Währenddessen machten die belgischen Spieler aus ihrem Herzen keine Mördergrube. ­Thibaut Courtois gab unumwunden zu, dass sich sein Spaß am Spiel in Grenzen hielt: „Es fällt schwer, dieses Spiel zu spielen. Aber wir müssen es ja tun.“

Für den Zuschauer war dieses Spiel ein Segen. Wie oft bei Spielen um den dritten Platz regierte eine gewisse Leichtigkeit, ein verspielter Witz das Geschehen. Das gilt zuvörderst für Belgien, denn bedauerlicherweise fehlte England ohne Jordan Henderson auf der Sechs ein wenig die Statik.

Jordan Henderson hat ein unglaubliches Turnier gespielt, er war der Anker, der die Mannschaft hielt. Bis zum Halbfinale hat er, der einzige Mann vor der Abwehr, nur einen einzigen Defensivzweikampf geführt. Er hat sich selbst quasi unsichtbar gemacht, weil er immer richtig stand, weil er das Spiel mit seltener Klarsicht antizipierte. Der Ball war der Hase, und Henderson der Igel: Er war immer schon da.

Vor dem Kroatienspiel zwickte bereits der Oberschenkel, da musste er auch runter, in der 97. Minute. Gegen Belgien stand da in der Mitte dann Dier, der das ganz solide machte.

Aber solide reicht gegen Belgien nicht. Es wird oft von goldenen Generationen gesprochen, Jahrgängen, die auf einem bis dahin für unerreichbar gehaltenem Niveau spielen. Belgien barg schon seit einigen Jahren das Versprechen, ganz aktuell über eine solche Mannschaft zu verfügen, aber es brauchte diese WM, damit sie es zeigten. Und sie zeigten es jetzt, befreit vom Erwartungsdruck, gegen immer wieder verdreht dastehende Engländer, denen Knoten in Bein und Hirn gespielt worden waren.

Und das von Anfang an. Vierte Minute, Belgien gewinnt den Ball im Mittelfeld, und Romelu Lukaku spielt einen streichzarten Pass in den Lauf von Nacer Chadli. In der Mitte wittert John Stones das Ungemach, einmal, zweimal zeigt er auf genau den Ort, wohin die Flanke kommen wird, aber Danny Rose glaubt ihm nicht so recht. Wer ihm völlig glaubt, ist der aus dem Hintergrund heranrauschende Thomas Meunier, der dann locker das Knie hinhielt.

Es ging gut los, und es ging gut weiter. Teils spielten die Belgier wie entfesselt; insbesondere Kevin de Bruyne, dieser Houdini, zeigte Pässe, die aus Zucker waren. Und Eden Hazard, um den herum sich der Raum zu dehnen scheint; wo andere nicht mal Platz zum Stehen finden, weiß er sogar, wie man da eine Pirouette dreht, den Ball am Fuß.

Auf Effektivität war das Spiel nicht ausgerichtet. Hätte Romelu Lukaku nicht ungewöhnliche zwei Male den Ball verstolpert, möglich, dass Belgien seinen Gegner richtig rund gemacht hätte. Der Mann ist 1,91 Meter groß und wiegt 94 Kilogramm, hat aber die Fesseln eines Balletttänzers.

„Es fällt schwer, dieses Spiel zu spielen. Aber wir müssen es ja tun“

Thibaut Courtois, Torwart der belgischen Nationalmannschaft

Ungewöhnlicherweise kam England nach Standards kaum zu kribbeligen Szenen, die altbewährte Taktik, sich ringelreihengleich in ein bis zwei Kolonnen in den Strafraum zu stellen, griff nicht. Und Harry Kane war an diesem Tag nicht übermäßig inspiriert.

Trotzdem hätte es noch mal anders kommen können In der 70. legte Eric Dier den Ball über den herausfliegenden Courtois, aber ach, es kam noch ein Belgier geflogen, Toby Alderweireld, und grätschte den Ball aus dem Netz. Stattdessen spielte Belgien einen Konter, den in dieser Klarheit und Übersichtlichkeit auch Piet Mondrian hätte malen können: alles war an seinem Platz, aber eben auch Jordan Pickfort, der Meuniers Volley aus der Ecke holte. Dann anders, dachte sich Eden Hazard und hieb den Ball ins kurze Eck. Da war der Drops gelutscht.

Sechs Siege hat Belgien aus sieben Spielen geholt. Die Mannschaft war im Schnitt 27,7 Jahre alt. Es hat schon etwas Tragisches, dass ihr das Finale durch den Realismus der französischen Mannschaft abhandenkam; das deutschsprachige Grenzecho orakelte dann auch: „Das Halbfinale wird Euch noch lange verfolgen.“ Anderswo wurde weniger gedunkeltutet, die französischsprachige Zeitung La Libre feierte jetzt schon den historischen Moment: „Diese Generation hat jene abgelöst, die 1986 das ganze Land zum Träumen brachte.“ Und der flämische de Morgen wurde geradezu übermütig. „Das kleine Finale ist häufig nur der Vorbote eines großen Finales vier Jahre später.“ Ob das stimmt? Die Innenverteidigung ist schon über dreißig Jahre alt, die Wirbler im Mittelfeld sind Ende zwanzig, zur EM werden sie wohl so noch antreten können. Aber danach?

England hatte eine der jüngsten Mannschaften im Turnier. Sie zeigte eine gewisse Unbekümmertheit, die in manchen Momenten in Laisser-faire umschlug. Es war aber genau diese Leichtigkeit, die sie ihre eigene Geschichte vergessen ließ: Seit dem Achtelfinale 2010, als man sich von Deutschland auseinandernehmen ließ, hat das Land nur noch wenig Ansprüche an seine Nationalmannschaft gestellt. Und jetzt? Das Turnier war eine Verheißung. Und 2020 findet das Endspiel in Wembley statt.