Was der G20-Gipfel verändert hat: Der fremde Staat

Der G20-Gipfel vor einem Jahr hat vieles verändert. Vor allem das Verhältnis der Bürger zum Staat wurde dabei nachhaltig beschädigt.

Polizisten mit Schutzkleidung und Helmen stehen dicht beieinander.

Eine Polizeieinheit formiert sich auf dem Heiligengeistfeld auf St. Pauli Foto: Miguel Ferraz

Was bleibt, ist dieses Unbehagen. Das Gefühl der Ungerechtigkeit, der Machtlosigkeit, des Ausgeliefertseins vieler BürgerInnen, auch noch ein Jahr nach dem G20-Gipfel in Hamburg. Die Diskussionen, die seitdem geführt wurden, sind – wie der Gipfel selbst – geprägt von Kontrasten, Gegensätzen, Antagonismen: den in Vergessenheit geratenen Ergebnissen des offiziellen Gipfels und den unvergessenen Bildern brennender Barrikaden.

Dem Bestürzen über zerstörte Autos und Fensterscheiben bei den einen und der heimlichen Begeisterung für den autonomen Wutausbruch bei den anderen. Von einigen Tausend Militanten und mindestens 70.000 friedlichen Demonstrierenden. Dem Entsetzen über Übergriffe durch Beamte und der Aussage von Olaf Scholz, es habe keine Polizeigewalt gegeben. BürgerInnen gegen Autonome, CDU gegen die Rotfloristen, AnwohnerInnen gegen Gesamteinsatzleiter Dudde, Innensenator Grote und Polizeipräsident Meyer.

Vordergründig hat sich die Stadt nach dem G20-Gipfel schnell wieder erholt. Im Schanzenviertel, wo es am 7. Juli 2017 die weitreichendsten Ausschreitungen gab, herrschte im Grunde schon am Montag nach dem G20-Wochenende fast wieder Normalbetrieb. Schweres Gerät der Stadtreinigung macht sowas möglich. Andererseits jagen die Schlagzeilen über Folgen, Urteile und Aufarbeitungen des Gipfelgeschehens bis heute fast noch täglich durch die Presse. Auch ein neues Wort ist entstanden: das Hubschraubertrauma. Bis heute klingen AnwohnerInnen die Rotorengeräusche der Tage und Nächte jenes Juli-Wochenendes nach.

Konsequenz: Kennzeichnungspflicht für Polizisten

Eine der jüngsten Konsequenzen des G20-Gipfels ist die Einführung der Kennzeichnungspflicht für Hamburger PolizistInnen durch Innensenator Andy Grote (SPD). „Wir wollen ein Ende der Phantomdebatte, dass die Polizei etwas zu verbergen hätte“, erklärte er. „Wir nehmen wahr, dass von einer Polizei in der Mitte der Gesellschaft erwartet wird, dass sie erkennbar ist.“

Dass Grote sich mit dem Schritt über den Einspruch der Polizeigewerkschaften hinwegsetzte, die er zuvor eigentlich immer mit im Boot haben wollte, zeigt, dass es für den Innensenator in der Wahrnehmung der Staatsmacht etwas gerade zu rücken galt. Denn die Polizei in Hamburg erlitt mit dem G20-Gipfel einen Vertrauensverlust.

Offenbar wurde das zuletzt Ende Mai, als der G20-Sonderausschuss in Hamburg die AnwohnerInnen zu Wort kommen ließ. So groß war der Andrang, dass die Sitzung aus dem Rathaus in die Kulturkirche Altona verlegt wurde.

Bei ihren Schilderungen kamen den Menschen noch fast ein Jahr nach dem Gipfel die Tränen. Sie berichteten vom Freitagabend, dem 7. Juli 2017, im Schanzenviertel. Die Polizei griff damals stundenlang nicht ein – wegen eines möglichen Hinterhalts von den Dächern, wie sie später erklärte – bis dann Spezialeinheiten mit Sturmgewehren vorrückten.

Die AnwohnerInnen erzählten davon, wie sie Brände löschen mussten, weil keine Hilfe kam. Wie sie sich mit militanten Autonomen und Trittbrettfahrern allein gelassen fühlten. Aber auch von ihren zahlreichen Beobachtungen von Übergriffen durch die Polizei – auch auf völlig Unbeteiligte.

Den bis heute 61 Verurteilungen und insgesamt noch 2.006 laufenden Ermittlungsverfahren der Soko „Schwarzer Block“ stehen 138 Ermittlungen gegen PolizistInnen gegenüber, von denen 68 mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt wurden. Kein Beamter wurde angeklagt. Bei vielen, vor allem linksgerichteten BürgerInnen, sorgt das für Kopfschütteln. Zu viele Bilder zeigen brutales Vorgehen auch durch die Uniformierten.

Elf Strafverfahren gegen Polizisten seien eingestellt worden, weil die Beschuldigten nicht zu identifizieren waren – unter anderem darauf verwies Innensenator Grote als einer der Gründe für eine Kennzeichnungspflicht. Doch heilen sechs Nummern auf den Uniformen die Enttäuschung jener BürgerInnen, die an die Polizei als Verein der Freunde und Helfer glaubten?

Ein Teil der Enttäuschung beruht auf einem ideologischen Erfolgsphänomen des bürgerlichen Staates: der Verdrängung des ersten Teils des Wortes „Gewaltmonopol“. Viele sind entsetzt darüber, wenn PolizistInnen Gewalt ausüben – obwohl das im rechtlich gesetzten Rahmen zu ihrem Job gehört. G20 war da ein Realitätscheck, bei dem viele BürgerInnen des saturierten Hamburgs sowohl Autonome wie PolizistInnen als Ruhestörung empfanden.

Für den Kriminologen Rafael Behr, Professor an der Hamburger Polizeiakademie, rührt die Wahrnehmung, dass die Polizei in Hamburg teilweise wie eine Besatzungsmacht aufgetreten sei, vom Bruch eines Versprechens: dem, dass es für die Demokratie wichtig sei, den G20-Gipfel in einer Stadt stattfinden lassen zu können.

Je näher der Gipfel rückte, so Behr, desto mehr habe die Stadtgesellschaft gemerkt, dass es nicht um sie, sondern um einen reibungslosen Gipfelverlauf gehe. „Aus den Bürgern wurden nach und nach wieder die klassischen Herrschaftsunterworfenen“, sagt der Kriminologe. „Die Polizei verabschiedete sich von ihrem Selbstverständnis als Bürgerschutzpolizei und wurde zur Staatsschutzpolizei, mit martialischem Law-and-Order-Anspruch.“

Die rechtliche Ordnung beruht auf außerrechtlicher Gewalt

Noch radikaler denkt der Rechtsphilosoph Stefan Krauth. Im Ausnahmezustand, so sagt er, zeige sich die Anwesenheit von Nicht-Rechtlichem im Verhalten von Polizei und Justiz. Beim G20-Gipfel sei das auf verschiedene Weise ins Auge gesprungen. In einem Rekurs auf das, was der Philosoph Walter Benjamin als „rechtssetzende und rechtserhaltende Gewalt“ bezeichnete, beruht für Krauth die rechtliche Ordnung letztendlich selbst auf außerrechtlicher Gewalt und gehe hin und wieder zu diesem ihrem notwendig verdrängten Ursprung zurück, um sich Geltung zu verschaffen. „Rechtsförmige“ Gewalt müsse auf den Exzess rekurrieren, um Autorität wieder einzusetzen.

Es sind wie gewohnt die konservativen und rechten Kräfte, die nach dem G20-Gipfel einem solchen Exzess der Staatsgewalt das Wort reden. Hohe Bestrafungen und Polizei-Panzerwagen „Survivor“ reichen ihnen nicht mehr. Die CDU fordert die Schließung der Roten Flora, obwohl es laut Ermittlungen keine maßgebliche Beteiligung des Zentrums an den Auseinandersetzungen gab – und deshalb eine Razzia dort aus gutem Grund ausblieb.

Dennoch reagiert der Senat aufmerksam auf die Kritik aus dem konservativem Lager. Etwa, indem Hamburgs neuer Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) seinem Innensenator darin widerspricht, dass die Kennzeichnungspflicht eine Konsequenz aus G20 sei. Allein die verschärfte Strafverfolgung – auch durch die internationalen Öffentlichkeitsfahndungen – will Tschentscher als solche verstanden wissen sowie die Verstärkung der Bereitschaftspolizei um einen vierzigköpfigen Zug, dessen Beamte klettern und sich abseilen können sollen.

Tschentscher betont Härte und verzeiht polizeiliche Fehler. Womöglich ist Innensenator Grote demgegenüber etwas sensibler auch für den Ärger auf St. Pauli – schließlich ist das sein Kiez.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.