Die braven Männer proben den Aufstand

Freiheitskampf 1804 und heute: Im Passionsspielort Oberammergau feiert Christian Stückl die Kraft heterogener Gemeinschaften und inszeniert Schillers „Wilhelm Tell“

Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben: Andreas Richter (Hermann Gessler), Rochus Rückel (Wilhelm Tell), Martin Güntner (Ulrich von Rudenz) Foto: Arno Declair

Von Sabine Leucht

Über der Panoramabühne des Oberammergauer Passionsthea­ters wölbt sich der blaue Himmel. Darunter wohnt das Elend: Schwarze Skelette von Häusern, deren Wände in Fetzen gegangen sind. Hie und da raucht es noch zwischen ihnen!

Ein Kriegsszenario hat Stefan Hageneier hier aufgebaut, das im Aleppo von heute liegen könnte, auch wenn man sich realiter in den Ammergauer Alpen befindet. Es grüßt der Kofel – und vom Stück her das Matterhorn in der Schweiz. Denn zwei Jahre vor der hier alle Jahrzehnte wieder aufgeführten Passion vom Leiden und Sterben Christi lässt deren Spielleiter Schillers „Wilhelm Tell“ spielen.

Es ist nicht der erste nichtbiblische Stoff im Herrgottschnitzerdorf Oberammergau und dennoch ein weiterer Schritt auf dem Weg der Emanzipation vom Althergebrachten, den Christian Stückl seit 1987 geht: Zunächst verbannte er offen antisemitische Passagen aus dem alten Passionsspiel-Text, dann kippte er die Auftrittsverbote für verheiratete Frauen und Nichtkatholiken, stärkte die Rolle der Musik und überhaupt der Kunst gegenüber der Tradition. Obwohl Stückl, der im Hauptberuf das Münchner Volkstheater leitet, in seinem Heimatort nach wie vor nur mit Laien inszeniert.

Doch was heißt schon Laie in einem 5.400-Seelen-Dorf, das seit dem Pestgelübde 1634 mindestens alle zehn Jahre die Bühnenbegeisterung packt? Im kommenden Oktober wird schon wieder verkündet, wer 2020 der Jesus sein wird, der Judas und die Maria Magdalena. Um die 2.000 Langhaarige werden bis dahin gebraucht. Also legen die Dorf-Friseure das ein oder andere Zwangs-Sabbatical ein – und der Theaterfieberpegel steigt.

Dass er generell höher ist als anderswo, beweist man mittlerweile jährlich. Und diesmal mit dem „Tell“: Rund 60 Oberammergauer stehen auf der Bühne, ein etwa 50 Musiker starkes Orchester und ein ebenso großer Chor verstecken sich dahinter. Und fast 2.000 Zuschauer pro Abend wohnen dem Aufstand der Urkantone Schwyz, Uri und Unterwalden gegen die Willkürherrschaft habsburgischer Vögte bei – und der Genese des braven Mannes Tell zum Tyrannenmörder.

In dem 22-jährigen Studenten Rochus Rückel sehen sie einen sehr jungen Tell, der vom redlichen Privatier („Ein jeder lebe still bei sich allein“) zum Rächer mutiert, weil er erkennen muss: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“

Man kennt das Stück – und dennoch überrascht die fast leblose Puppe, der das „einig Volk von Brüdern“ am Ende des letzten Aufzugs den Arm zum Jubel nach oben reißen muss. Weil der Mann, der meinte, keine andere Wahl zu haben, als dem grausamen Landvogt Gessler in der „hohlen Gasse“ aufzulauern, soeben in einen Zerrspiegel gesehen hat: Der feige Mörder des Kaisers hat ihn heimgesucht wie seinesgleichen. Und nun mischen sich in Tells Kopf wohl die Grenzen zwischen Freiheitskampf und Attentat.

Auf der Bühne dagegen herrscht Eindeutigkeit: Naziuniformen und Schurkenlachen kleiden die Schergen der Habsburger Monarchie, während die Anführer der drei Stämme einen lässigen Revoluzzer-Style pflegen. Irgendwie ist es wie in der Passion: Gut gegen Böse. Nur dass es statt Erlösung Freiheit zu gewinnen gibt. Aber ist das nicht irgendwie dasselbe?

Ab und an stößt sich die bayerische Zunge am Schiller’schen Blankvers

Stückl hat im Zuge der Verschlankung des 1804 uraufgeführten Dramas einige kalenderspruchtaugliche Darlings gekillt, aber leider nicht die Hinweise auf die Schwäche der Frauen, die eigentlich schon Schiller als treibende Kräfte installierte. Der Aufstand gegen die Menschenrechtsverächter, von denen es auch heute wieder allzu viele gibt, bleibt eine Sache der Kerle, der Fäuste, Armbrüste und testosterongetriebenen Hitzköpfe, die die Oberammergauer mit Spaß und Eifer auf die Bühne wummsen.

Ab und an stößt sich die oberbayerische Zunge am Schiller’­schen Blankvers wie der über die Jahre mit geschmackssicher ausgepinselten Breitwandgemälden verwöhnte Passionsthea­ter-Besucher an der vergleichsweise nüchternen Inszenierung. Wäre da nicht die Apfelschussszene, mit der Stückl sein ganzes Können als Inszenator der Massen zeigt, indem er Blick- und Spannungsachsen über die ganze Breite der Cinemascope-Bühne hin anlegt – und auch hält.

Die 80 Schritte, die Gessler zwischen Tell und seinen Sohn legt, betragen hier gut 30 Meter; und wie lange der Schuss auf sich warten lässt, während Stauffacher (Frederik Mayet) vom einen Ende her warnt, der wackere Junge (Johannes Maderspacher) am anderen nicht zagt und der zwischen Machtgeilheit und Irrsinn irrlichternde Gessler (Andreas Richter) fast in die Schusslinie hampelt.

Richter und Mayet, die Jesusdarsteller von 2010, stechen auch beim „Tell“ heraus und ­haben sich ohnehin schon für weitere Aufgaben empfohlen. Doch neben ihnen empfiehlt sich das ganze Dorf; all die Kraftlackl, Bedenkenträger und braven Männer, die sich hier zusammengerauft haben und glaubhaft für ihre Sache kämpfen, auch wenn es nur das Thea­ter ist.