Die Pforten sind wieder offen

Die neue Dauerausstellung in der einstigen Synagoge in der Oranienburger Straße zeichnet anhand vieler Biografien jüdisches Leben in Berlins Mitte nach – bis heute

„Tuet auf die Pforten …“ – dieses Zitat hing schon 1866 bei der Einweihung der Synagoge über deren Eingang. Rechts die Postkarte mit dem antisemitischen Zusatz Foto: H. Lucke/Centrum Judaicum

Von Klaus Hillenbrand

Alisa Jaffa steht in der Vorhalle der ehemaligen Neuen Synagoge in der Oranienstraße und hat „sehr gemischte Gefühle“, wie sie sagt. Die Tochter des letzten Gemeinderabbiners entkam 1939 zusammen mit ihren Eltern nach Großbritannien. Da war sie drei Jahre alt.

An das Gotteshaus, in dem ihr Vater predigte, hat sie zwar keine persönlichen Erinnerungen mehr. Wohl aber sei die Synagoge durch Fotos und die Gespräche mit ihrem Vater Ignaz Maybaum immer präsent gewesen. „Es hat zehn Jahre gedauert, bis mein Vater in London Fuß fassen konnte“, sagt sie. Doch eine Rückkehr nach Berlin sei für ihn nach dem Krieg nicht in Frage gekommen.

Alisa Jaffa ist aus einem besonderen Anlass in die Oranienburger Straße zurückgekehrt. Am Donnerstag eröffnete nach längerer Umbauphase die neue Dauerausstellung der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum.

Immer noch glaubten manche Besucher, das hohe Haus mit seiner großen Kuppel werde als Synagoge genutzt, sagt die Leiterin der Einrichtung Anja Siegemund anlässlich der Wiedereröffnung. Das mag der äußeren Fassade geschuldet sei. Doch tatsächlich fand hier der letzte Gottesdienst im Jahr 1940 statt. 1943 zerstörten Bomben große Teil des Gebäudes, das bis in die 1980er Jahre eine notdürftig abgesicherte Ruine blieb. Erst 1995 eröffnete die Ausstellung zur Geschichte der Berliner Juden in den erhalten gebliebenen Teilen des Gebäudes. Jetzt, fast 25 Jahre später, war es Zeit für eine Neukonzeption, meint Chana Schütz, die die Schau konzipiert hat.

„Tuet auf die Pforten …“ – dieses biblische Zitat hing schon 1866 bei der Einweihung der Synagoge über deren Eingang. Es stand zugleich für eine Öffnung des Judentums hin zur deutschen Gesellschaft. Die originalen hebräischen Lettern aus dem 19. Jahrhundert stehen am Beginn der Schau, die die Geschichte des Gebäudes mit der der Juden in Berlin verknüpft. Daneben hängt – zu riesigem Format vergrößert – eine Postkarte mit dem Bild der Synagoge aus der Zeit der Eröffnung, auf die der damalige Absender unten die Worte „Riechste Knoblauch?“ gekritzelt hatte. Ein Zeichen des Antisemitismus, der schon damals, im 1871 begründeten deutschen Kaiserreich, um sich griff.

Wo diese Geschichte endete, veranschaulicht eine große Vitrine, die Kurt Heinz Aron gewidmet ist. Er wurde 1943 in Auschwitz 1943 ermordet. Auf der Vitrine liegt ein Album zum Durchblättern, in dem die Eltern sorgfältig das Wachstum ihres Babys vermerkt haben: „Nach einer Woche: 7.300 Gramm“ steht da, „nach 24 Wochen 15.420 Gramm“. Und so wurde der kleine Kurt Heinz zum jungen Mann, der im Ersten Weltkrieg an der West- wie an der Ostfront Dienst tun musste, der in der Weimarer Republik das Tuchgeschäft des Vaters übernahm, sich wegen seiner Liebe zu einer Nichtjüdin mit seiner Mutter überwarf, einen Sohn bekam und schließlich aus der Gemeinde austrat. Dies alles wird dokumentiert in Fotos und amtlichen Schreiben.

Zum 31. Dezember 1938 musste Aron sein Geschäft in Berlin schließen und später als Zwangsarbeiter schuften. Am Ende findet sich die Sterbeurkunde des Standesamts Auschwitz II vom 29. Oktober 1943 – ja, auch so etwas gab es, wenn ein nichtjüdischer Partner zurückblieb.

Anders als ihre Vorgängerschau legt die neue Austellung ein deutlicheres Gewicht auf biografische Erinnerungen. Das setzt sich im Obergeschoss im Repräsentantensaals fort, wo die Besucher auf Laptops mit aufgespielten Erzählungen von Überlebenden zurückgreifen können. Da sagt der 1923 geborene Seev Jacob über die Erwartungen der deutschen Juden in der Zeit unmittelbar nach der NS-Machtübernahme: „Das Leben wird weitergehen. Die Juden in Deutschland werden weiterleben wie immer.“ Nur wenige Jahre später, 1938, musste er ins damalige Palästina flüchten. Jedoch: „Die deutsche Kultur blieb für uns weiter unsere Kultur“, so Seev Jacob, der heute in einem Kibbuz in Israel lebt.

Rundgang durchs Viertel

Wieder im Erdgeschoss angekommen, kann man einen virtuellen Besuch des lange jüdisch geprägten Viertels rund um die frühere Neue Synagoge unternehmen. Auf einer Zeitleiste von 1866 bis heute ist zum Beispiel die Blindenwerkstatt von Otto Weidt in der Rosenthaler Straße zu sehen, in der sich während des Holocaust Juden verstecken konnten; die weitgehend zerstörte Synagoge in der Artilleriestraße 31, die den wenigen gläubigen Ostberliner Juden noch bis in die 1980er Jahre als Mikwe (rituelles Tauchbad) diente; aber auch die Redaktion der Jüdischen Allgemeinen, die erst vor einigen Jahren in die Umgebung der Oranienburger Straße gezogen ist.

Ganz im Mittelpunkt aber stehen dort, wo sich früher einmal die Gottesdienstbesucher sammelten, Trümmerstücke der Synagoge, wiederentdeckt erst Jahrzehnte später: die Ecke eines Toraschreins, Teile der Kanzel. Gekrönt werden diese von einer vollständigen Tora: als Sinnbild dafür, dass jüdischen Leben in Berlin weitergeht.

Dauerausstellung „Tuet auf die Pforten“. Öffnungszeiten bis September: Mo. bis Fr. 10 bis 18 Uhr, So. 10 bis 19 Uhr. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 4,50 Euro