Fußball-WM in Wolgograd: Anstoßen mit Novichok

In Wolgograd erinnert alles an die Schlacht um Stalingrad. Feiern fällt Fußball-Fans hier nicht leicht. Da müssen schon besondere Drinks her.

Soldaten marschieren an eunem Denkmal vorbei

Die Stadt macht einen klein: russische Soldaten beim Wachwechsel Foto: dpa

WOLGOGRAD taz | Gibt es etwas Schöneres bei einer Fußball-WM, als Menschen zuzusehen, wie sie sich um den Hals fallen, nur weil sie die gleiche Leidenschaft teilen? Wie wildfremde Menschen anfangen, sich zu unterhalten, obwohl sie die Sprache des jeweils anderen nicht verstehen, nur weil sie als Fußballfans zu erkennen sind. Was ist dein Klub? Wer gewinnt heute? Wer wird Weltmeister? Wie findest du das Stadion?

Der Fußball macht manchmal die ganze Welt so leicht, dass man sich wünscht, das Leben wäre eine ewige Fußballweltmeisterschaft. Zwei Stunden vor dem Anpfiff des Spiels Island gegen Nigeria in Wolgograd stolpern vier Russen in ihre Landesfahnen gehüllt aus dem Eingang eines Hostels unweit des Stadions. „Wartet, wartet!“, rufen sie der Gruppe von Nigerianern zu, die sich schon auf den Weg zur Arena gemacht haben.

Die Russen herzen die Nigerianer, die Nigerianer herzen zurück und jeder wird gleich das gemeinsame Gruppenselfie auf Instagram posten und dazuschreiben, was er doch für tolle neue Freunde gefunden hat. Nur manchmal wird es schwierig. Wie findet ihr Wolgograd? Was soll man antworten, ohne unhöflich zu werden.

„Stadt des Sieges“

Die Stadt macht die Besucher klein. Die Denkmäler, die an die kriegsentscheidende Schlacht um Stalingrad erinnern, sind allgegenwärtig. Es gibt die großen Statuen, es gibt die kleinen Erinnerungstafeln, lebensgroße Denkmäler, Reliefs, die ganze Hausfassaden bedecken. Und immer wieder sieht man die sowjetrealistischen Darstellungen von Kriegern mit entschlossenen Gesichtern. „Wolgograd, Stadt des Sieges!“, steht überall. Das Fanfest liegt zu Füßen des Obelisken, der an die Gefallenen der Schlacht erinnern soll. Er macht den Fans aus dem Ausland das Feiern nicht leicht.

Die Wolgograder sehen längst nicht mehr jedes Mahnmal in der Stadt. Was ist zum Beispiel mit dem Luftabwehrgeschütz, das da an einem Bahndamm auf einem Sockel steht? „Ach, das ist mir noch nie aufgefallen“, sagt Natalja, die die zwei Dixi-Klos bewacht, die man für die Fans aufgebaut hat, damit sie sich auf dem langen Weg vom Bezirk Roter Oktober zum Stadion erleichtern können.

„Hier ist doch überall Krieg“, sagt sie und lacht. Ihre zwei Chemieklos stehen innerhalb der riesigen Bannmeile, die an Spieltagen um das Stadion gezogen wird. Der halbe Innenstadtbezirk ist für Autos gesperrt. Darüber regen sich die Bewohner zwar auf, denen man mit einem Betonpoller die Straße versperrt hat, sodass sie gar nicht mehr aus ihrem Viertel herauskommen. Die meisten aber haben Verständnis.

Immer wieder kommt das Gespräch auf die Serie von islamistisch motivierten Selbstmordanschlägen, die Wolgograd 2013 erschütterten. Dabei kamen 40 Menschen ums Leben, Teile des Bahnhofs, der nach dem Krieg im schönsten Stalin’schen Zuckerbäckerstil wieder aufgebaut wurde, wurden bei einem dieser Selbstmordattentate zerstört.

Kann man sich Helene Fischer wünschen?

Und so ist es kein Wunder, dass die Sicherheitskräfte in der Stadt die Taschen ein bisschen genauer untersuchen am Eingang zum Stadion, zum Fanfest und zur Straßenbahn. Im Club Grjaduschka ist man nicht so glücklich über die weiträumigen Absperrungen. Der Barkeeper erzählt, dass man sich mehr WM-Touristen gewünscht hätte. „Wenn man wenigstens mit dem Taxi bis vor die Tür fahren könnte,“ sagt er.

Kurz vor Mitternacht ist jedenfalls noch nichts los. Ein paar russische WM-Touristen aus Belgorod sind da, ein paar unauffällige Einheimische und jede Menge Türsteher. Der Clubsound ist zwar arg gefällig, aber eine wohltuende Abwechslung zu dem ansonsten allgegenwärtigen Russki Pop, der sich so billig anhört, dass Helene Fischer beinahe vergleichsweise symphonisch klingt.

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Die Spezialität des Hauses mag zunächst niemand ordern an diesem Tag. Speziell zum Gastspiel der Engländer gegen Tunesien haben die Betreiber des Grjaduschka einen neuen Drink entwickelt. Novichok heißt der, wie das Nervengift, mit dem der Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter in Salisbury umgebracht werden sollten. Giftgrün ist das höchstprozentige Zeug, das bekommt, wer den absolut tödlichen Drink bestellt. Kräuterschnaps, Wodka und Benzin könnten drin sein, so schmeckt es zumindest.

Auf die Frage, was man getrunken habe, gibt der Barkeeper die niederschmetternde Antwort „Novichok, was sonst?“ Zum Runterspülen gibt es Wodka in Pfirsichsirup. 2.000 Rubel kostet das. Wer nicht mehr zur Verfügung hat als die Durchschnittsrente in Russland, könnte sich acht solche Drinks im Monat leisten.

Dass die Stadt nicht reich ist, sieht man. Sie ist ein recht amorphes Gebilde, das sich über 70 Kilometer am Wolga-Ufer entlangzieht. Die Plattenbauten aus Sowjetzeiten wirken wie zufällig über der Stadt abgeworfen und sehen so aus, als hätten sie beim Aufschlagen auf der Erde die Macken abbekommen, die sie so unwohnlich aussehen lassen. Dazwischen stehen Hütten, die wohl ärmlicher aussehen, als sie sind. Es sind die Datschen der Wolgograder, die beinahe mitten in der Stadt ihr Gemüse anbauen. Das ganz Große und das Winzigkleine liegen dicht beieinander. Mit dem neuen Stadion setzt Wolgograd einmal mehr zum Sprung in die Moderne an, an dem die Stadt bis jetzt noch immer gescheitert ist.

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Beim Stahlwerk „Roter Oktober“, jenem legendären Hüttenwerk, das selbst während der Schlacht um die Stadt weiter produziert hat, ist das nicht so gut gelungen. Zwar wird hier immer noch Stahl gewalzt für die russische Rüstungsindustrie, aber die riesigen roten Rauchwolken, die regelmäßig über der Stadt aufsteigen, zeigen, wie sehr das Werk von gestern ist. Während der WM wird im „Roten Oktober“ nicht produziert, weil man nicht will, dass die Rauchwolken ins Stadion ziehen. Den Schutz vor den giftigen Wolken wünschen sich die Wolgograder nicht nur zu WM-Zeiten. Gerichte haben den Stahlproduzenten wegen Verletzung von Umweltauflagen zu Strafzahlungen verdonnert. Die kann der überschuldete „Rote Oktober“ aber nicht leisten und so steht sogar die Pleite des Werks im Raum. Die Arbeiter sind schon auf die Straße gegangen.

Vielleicht gibt es bald eine weitere Industrie­ruine in der Stadt. Derer gibt es viele. Man war vor der WM damit beschäftigt, die verlassenen Industrieanlagen direkt neben dem Stadion hinter riesigen Planen zu verstecken. Die Fifa-Sponsoren wird’s gefreut haben. So große Werbetafeln hat man ihnen in anderen WM-Orten nicht aufgestellt.

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