Flüchtlingsrettung per Telefon: Hamburgs Ohren auf dem Mittelmeer

Miriam Edding hat das „Alarmphone“ mit initiiert, das Geflüchtete in Seenot anrufen können. Die psychische Belastung für die Aktivist*innen ist enorm.

Miriam Edding in ihrem Hamburger Büro.

Telefonieren für das Leben: Miriam Edding in ihrem Hamburger Büro Foto: Miguel Ferraz

Wenn Miriam Edding anfängt von den Dramen zu erzählen, die jeden Tag auf den kleinen Booten und Schiffen auf dem Mittelmeer passieren, dann macht sie das sehr aufgeräumt, beinahe nüchtern. Nur selten blitzt die Empörung auf, die sie angesichts dieser Zustände empfindet. „Natürlich ist das belastend, denn man kann sich jede Szene gut vorstellen. Gleichzeitig ist es wichtig, eine Grenze dazu aufzubauen“, sagt sie.

Denn auch wenn sie eine Freiwillige ist, verlangt ihre Aufgabe nüchterne Professionalität: Die Hamburgerin hat vor vier Jahren die Initiative „Watch the Med“ mitgegründet, die das „Alarmphone“ betreibt. Seitdem erreichen sie Notrufe von Geflüchteten, die bei ihrer Überfahrt auf dem Mittelmeer in Seenot geraten sind. Die Aktivist*innen am Alarmphone versuchen dann, schnellstmöglich Hilfe zu organisieren.

Anlass, einen privaten Notruf auf die Beine zu stellen, waren die steigenden Zahlen von Ertrunkenen im Mittelmeer. „Besonders als die EU Italien mit seiner Rettungsmission ‚Mare Nostrum‘ im Stich ließ und die Mission endete, musste etwas geschehen“, sagt Edding. Seitdem ist das Alarmphone rund um die Uhr besetzt. Die Nummer ist in den entsprechenden Communitys inzwischen weitgehend bekannt.

Flüchtlingsrettung im Schichtbetrieb

Das Netzwerk „Watch the Med“ besteht aus etwa 120 Aktiven, die jeden Tag drei Acht-Stunden-Schichten untereinander aufteilen. Die meisten von ihnen kommen aus Deutschland, viele auch aus Frankreich, der Schweiz oder Italien sowie Marokko und Tunesien. Das Prinzip des Alarmphones funktioniert so, dass die französische Nummer, ähnlich wie in einem Callcenter, den Anruf an die Personen weiterleitet, die gerade Schicht haben.

Kommt ein Anruf oder einer Whatsapp-Nachricht rein, arbeiteten Edding und die anderen Aktivisten einen Aufgabenkatalog ab. „Wir fragen zunächst, wie viele Menschen an Bord sind, wie dramatisch die Lage ist und wo genau sie sich befinden“, sagt Edding. Anhand der Koordinaten können sie herausfinden, welche Küstenwache alarmiert werden muss. Der Kontakt mit den Küstenwachen erfordere Fingerspitzengefühl, sagt Edding. Einerseits müssen sie Druck machen, andererseits kooperieren. Das ist nicht immer einfach.

Wenn Edding Schicht hat, macht sie das üblicherweise von Hamburg-Altona aus, wo sie wohnt. Die zweite aktive Person sitzt meist in einer anderen Stadt, meist sogar in einem anderen Land. „Per Skype oder Whatsapp kommunizieren wir dann miteinander und organisieren uns“, sagt Edding. Letztlich braucht es also nur ein Smartphone und einen Laptop – und viel Zeit. Im Schnitt drei Mal im Monat übernehmen die Aktivist*innen eine Schicht. Weniger darf es nicht sein. „Unser Versprechen ist, dass wir immer erreichbar sind. Wenn wir das nicht einhalten würden, wäre die Arbeit hinfällig.“

Miriam Edding

„Wenn mit den Schiffern die Augen auf dem Mittelmeer verloren gehen, sind wir als die Ohren noch da“

„Natürlich hat diese Arbeit langfristige Effekte auf einen“, sagt Edding. „Irgendwann steht man einfach nur noch unter Anspannung.“ Mittlerweile hat sie ein Stück weit Distanz aufgebaut – alles andere wäre wohl auf Dauer auch nicht aushaltbar. Als die Situation im Mittelmeer vor zwei Jahren eskalierte, gab es manchmal 20 Anrufe in einer Nachtschicht.

Besonders belastend ist es für die Aktiven, wenn die Rettung nicht gelingt. Seit 2013 gab es nach Angaben von Hilfsorganisationen jährlich mehrere tausend Tote auf dem Mittelmeer. „Es hilft, mit den anderen Aktiven darüber zu reden“, sagt Edding. In Hamburg hat ein Psychologe seine Hilfe angeboten.

Und dennoch: Mit dieser Arbeit aufzuhören, kommt für Miriam Edding nicht infrage. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit Migration und Flucht. Sie ist in vielen Initiativen und Vereinen aktiv, vor zwölf Jahren gründete sie die Do-Stiftung, die Projekte für Migrant*innen und Geflüchtete fördert. Es ist ihr großes Thema.

Dabei zeigt sich allerdings gerade bei der Arbeit mit dem Alarmphone, dass der gute Wille allein nicht reicht. „Ich komme auch nicht aus einer Generation, die mit Smartphones aufgewachsen ist“, sagt Edding. Eine technische Grundahnung sei aber nötig, es müssen etwa Schiffsbewegungen getrackt werden, um herauszufinden, welche Schiffe retten können. Das hat sie sich im Laufe der Zeit erarbeitet. Natürlich seien Helfer*innen immer willkommen, aber: „Man muss gut wissen, was man leisten kann.“ Die Einarbeitung dauere Wochen bis Monate, wenn Leute dann wieder abspringen, sei das zwar verständlich, aber eben auch verlorene Zeit. „Manche von uns sind schon längst überlastet“, sagt Edding.

Gute Erfahrungen hat das Netzwerk mit kleineren Gruppen gemacht, die untereinander die Schichten organisieren. So gibt es eine Gruppe aus Berlin, die eigentlich ein Freundeskreis ist und sich eine Schicht teilt. So liegt die Belastung auf mehrere Schultern.

Aktivist*innen werden als Schlepper dargestellt

Zu schaffen machen Edding und ihren Mitstreiter*innen die europäische Geflüchteten-Politik. „Während vor wenigen Jahren noch weitgehend der Konsens bestand, dass alles gegen das Ertrinken im Mittelmeer unternommen werden muss, werden Aktivist*innen mittlerweile als Schlepper dargestellt“, sagt Edding. Die Initiative will sich darum auch nicht auf die Notruf-Arbeit beschränken. „Wir verstehen uns nicht allein als Seenotretter*innen, sondern auch als politische Aktivist*innen“, sagt Edding.

Dass das Alarmphone in den nächsten Jahren unnötig wird, glaubt Edding nicht. „Dieser menschenfeindliche Rollback, den wir gerade in Europa erleben, macht unsere Arbeit weiterhin nötig“, sagt sie. Zwar sind auf dem Mittelmeer auch private Rettungsschiffe wie die „Aquarius“ aktiv, die vorige Woche mit zwei Begleitschiffen mehr als 600 in Seenot geratene Geflüchtete aufnahm. Doch weder die italienische noch die maltesische Regierung erlaubten den Helfern, die Menschen an Land zu bringen. Schließlich erbarmte sich die neue sozialistisch geführte Regierung in Spanien, ohne freilich daraus einen Präzedenzfall machen zu wollen.

„Wir sehen, dass derzeit versucht wird, die privaten Rettungsschiffe lahmzulegen“, sagt Edding. Allein schon deswegen müsse das Alarmphone weiter betrieben werden. „Wenn mit den Schiffern die Augen auf dem Mittelmeer verloren gehen, sind wir als die Ohren immerhin noch da“, sagt Edding – in Hamburg, so weit weg vom Sterben im Mittelmeer. Und doch so nah dran.

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