Oh Tetrapak, hilf!

Vom Suchen und Finden der Verse: Im Band „Die Hölderlin Ameisen“ verraten 36 Lyriker, wie ihnen Gedichte einfallen

Das wollen wir selbstverständlich wissen. Wie Gedichte entstehen. Aus Wörtern, wissen wir seit Mallarmé, nicht aus Gefühlen. Nun aber erfahren wir von der Lyrikerin Ilma Rakusa, dass Gedichte mitunter auch aus einem exquisiten Stück Damenunterwäsche gemacht sein können (poesie de negligé).

„Vom Finden und Erfinden der Poesie“ berichtet uns der von Manfred Enzensperger herausgegebene Band mit dem skurrilen Titel „Die Hölderlin Ameisen“. Er geht zurück auf eine Lyriktagung im März 2003 auf Schloss Elmau, die Enzensperger verantwortete und in deren Folge er 36 Lyrikerinnen und Lyriker einlud, exemplarisch anhand ausgewählter Texte über das Entstehen der Gedichte, den Findungs- und Produktionsprozess zu schreiben. Die Resultate gestalten sich so heterogen, wie Dichter nun mal berufsmäßige Individualisten sind.

Interessant ist dabei zunächst die Frage der Findung. Woher kommt die Initialzündung, welcher Finger legt sich um den Trigger, woher die erste Schrecksekunde zum Gedicht? Matthias Göritz reicht ein Stadtplan von Chicago, Kathrin Schmidt bleibt alltagsnah und lässt sich von einem geplätteten Tetrapak Orangensaft (Aldi, Konzentrat) inspirieren, während Gerhard Rühm, ohne groß Aufhebens darum zu machen, direkt die Tagespresse in seine Versform häckselt. Und selbstredend immer wieder Bilder. Fotos, Gemälde, Postkarten. Silke Scheuermann und Franzobel bewegen sich angesichts Berninis „Heiliger Theresa“ im Grenzbereich zwischen religiöser Verzückung und sehr weltlichem Orgasmus. Joachim Sartorius erforscht redselig Majakowskis Liebesleben anhand eines alten Fotos; Gregor Laschen erhält eine Karte aus dem anthropologischen Museum in Mexiko-Stadt und schreibt: „Das Gedicht ist der Alabasteraffe […] als Bild nach Europa/ geschickt, aus seinem Blau in das andere Blau hinüberleuchtend.“

Alles schön und gut, dem angeregt zu folgen, ein Leichtes. Schwierig wird es, wenn die Werkstattberichte zu poetologischen Manifesten oder blanken Selbstdarstellungen auswachsen. Da bekommt manch lyrische Belanglosigkeit nachträglich noch einen Sockel untergeschoben. Dieter M. Gräfs dünne Montage eines Sachtextes über Ameisen mit Hölderlins „Vaterland“-Ode beispielsweise wird im Kommentar zur gewichtigen Reaktion auf den 11. September stilisiert, als „Crash zwischen zwei Textsorten“. Uwe Tellkamp hingegen schafft es, den an sich vielversprechenden Ausschnitt aus seinem epischen Langgedicht „Der Nautilus“ im eigenen Nachwort gründlich zu diskreditieren. Innerhalb eines Absatzes spricht er mal eben dem kurzen Gedicht die Existenzberechtigung ab, weil es nur Ausschnitte zeige, nicht die „Welttotale“. Ihm aber gehe es um „das Ganze“, den „Weltentwurf“ und sowieso die „Wiederkehr der Uraltthemen Krieg, Vertreibung, Wechsel der Werte“. Der „moderne Dichter“, wie Tellkamp ihn und damit wohl sich selbst versteht, „ist wieder Dom-Baumeister“. Wie zum Beweis der alten These, nach der den größten Mumpitz über Gedichte immer noch die Dichter selbst verzapfen.

Wie informativ ist dagegen die schlichte Materialliste, die Marcel Beyer seiner Serie „Don Cosmic“ beigibt. Wir lernen aus ihr, wie kurz der Weg von Gottfried Benn zu jamaikanischem Reggae und Ska sein kann. Oder wie nüchtern und ehrlich schreibt Ulf Stolterfoht über seine „para-dichtung“, bei der ihm mitunter auch die Programmiersprache einer Computerzeitschrift Anregung bedeutet, obschon er eingestandenermaßen vom Programmieren nicht den blassesten Schimmer hat. Und wie angenehm uneitel liest sich das rekonstruierte Protokoll einer Gedichtproduktion von Elke Erb: „Tja. Es wird wieder nichts.“ NICOLAI KOBUS

Manfred Enzensperger (Hrsg.): „Die Hölderlin Ameisen. Vom Finden und Erfinden der Poesie“. Dumont Verlag, Köln 2005, 265 Seiten, 19,90 Euro