Farbe entspricht nicht der Realität

„Die Unsichtbaren und die Zornigen. Porträts aus einem anderen Russland“: Die Comiczeichnerin Victoria Lomasko war vergangene Woche im Gespräch mit Mischa Gabowitsch beim Einstein Forum in Potsdam

Von Annika Glunz

„Berühmt sein bedeutet für mich, vor allem auch, Verantwortung zu übernehmen für die eigene Arbeit und das eigene Schaffen – die meisten können das nicht“, sagt Victoria Lomasko im Gespräch mit Mischa Gabowitsch. Verantwortung zu übernehmen für das eigene Tun, das scheint generell ein großes Thema zu sein für die Comiczeichnerin, deren neuer Sammelband, „Die Unsichtbaren und die Zornigen“, Ausgangspunkt der Diskussion im Potsdamer Einstein Forum vor gut einer Woche war. Das Gespräch fand auf Russisch statt.

Im Buch richtet Lomasko den Blick auf ein Russland, jenseits des Fokus russischer Staatsmedien und des kommerziellen Kunstbetriebs: Jugendstraflager, Arbeitssklavinnen und unzählige Protestbewegungen, die vom Protest gegen den inflationären Bau orthodoxer Kirchen über das Aufbegehren von Lkw-Fahrern bis zu den Protestmärschen seit der Dumawahl 2011 reichen. Lomasko präsentiert ihren Leser*innen also ein unsichtbares Land, porträtiert aber auch Menschen, die trotz diverser Widrigkeiten nicht aufgeben und sich weiter für ein würdiges Leben einsetzen: „Die Zornigen“.

Hierbei zeigt sie nicht nur die Menschen selbst, sondern sie dokumentiert auch ein zutiefst repressives politisch-gesellschaftliches System: Durch Einschüchterung und Betrug gefälschte Wahlergebnisse, Polizeigewalt selbst gegen Minderjährige, die das staatliche System kritisch hinterfragen, Staatspropaganda über das Fernsehen und eine durch das Ausmaß ihrer Korruption schon absurd wirkende Justiz. Ein Buch mit solchen Inhalten in Russland zu veröffentlichen verlangt nicht nur der Autorin selbst ein gehöriges Maß Verantwortung ab – auch Verlage und Buchhandlungen müssen sich möglicher Auswirkungen ihres Handelns bewusst sein: „Wenn ich ein Buch he­raus­bringe, muss mir klar sein, dass ich danach entweder das Land verlasse oder aber bleibe und vor Ort politisch weiter­arbeite“, so Lomasko. Weder russische Verlage noch Buchhandlungen scheinen dazu bereit zu sein: Bisher ist das Buch nur auf Englisch und Deutsch erschienen. „Dass aktuell in Russland kein Interesse an meiner Arbeit besteht, ist eine große Strafe“, erklärte die Autorin, „aber mein internationaler Erfolg spornt an“.

Im weiteren Verlauf drehte sich das Gespräch um grundsätzliche Fragen künstlerischer Arbeit: Wie sie den Prozess des Zeichnens sehe, fragte Mischa Gabowitsch. „Meine Zeichnungen geben selten eine einzige Situation wieder. Sie zeigen Prozesse auf, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken“, erklärt Lomasko. Farben würden hierbei nicht zwingend der Realität entsprechen: „Ich nutze sie oft, um Stimmungen zu verdeutlichen“. „Wenn du Menschen befragst, die du porträtierst, geht es dir darum, diese selbst zu sehen oder möchtest du lieber spannende Storys haben?“, fragte Gabowitsch weiter. „Unterschiedlich“, lautete die ehrliche Antwort. Mit ihrer Arbeit wolle sie vor allem die kleinen Menschen zeigen, wie sie kleine Heldentaten begehen und somit eine Veränderung der Beziehung zur russischen Gesellschaft herbeiführen, verdeutlichte Lomasko am Ende des Gesprächs.

Angesichts der überschaubaren Zuschauerzahl war die Beteiligung am Ende der Veranstaltung durchaus rege: Ob es auch unter Jugendlichen eine Szene von Putin-Anhängern gebe, war eine Frage. „Ja, die gibt es“, so Lomasko. Durch die Möglichkeit von Auslandsreisen und die Nutzung des Internets sei die Situation aber um einiges differenzierter geworden.

„Die Unsichtbaren und die Zornigen“ gibt spannende Einblicke in die russische Gesellschaft – leider mangelte es dem Gespräch etwas an der Kontexttualisierung.

Victoria Lomasko: „Die Unsichtbaren und die Zornigen“. Aus dem Russischen von Sandra Frimmel. Diaphanes Verlag, Berlin, 2018, 320 Seiten, 30 Euro