Wende im Wahlkampf

Es muss wieder ein Rock durch Deutschland gehen: Die Titanic-„Partei“ kürte ihre Kanzlerkandidatin in Kreuzberg. Bisschen spät vielleicht – aber dafür war’s lustig, und vor allem auch war das Bier billig

VON MARTIN SCHNEIDER

Oliver Maria Schmitt lächelt zufrieden. Der Ehrenvorsitzende der „Partei“ weiß: Er hat die Menge jetzt im Griff. Er stützt sich auf die meterhohe Ziegelsteinmauer, die ihm als Rednerpult dient, beugt sich nach vorn und keift ins Mikrofon: „Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich lieber zwei davon habe!“ Die Leute jubeln und wedeln mit Puscheln, wie man sie von den Cheerleadern amerikanischer Highschools kennt. Sie recken Schilder in die Höhe, auf denen steht: „Warum nicht?“, „Applaus“, „Ja!“ Luftballons knallen. Irgendwo riecht es nach Hasch.

Oliver Maria Schmitt ist nicht nur ein großer Redner, vor allem ist er Autor des Satiremagazins Titanic. Er und seine Kollegen haben „Die Partei“ gegründet, um die Wahlrituale der Republik durch den Kakao zu ziehen.

An diesem Freitagabend haben die „Partei“-Genossen in einen Kreuzberger Hinterhof geladen. Es soll eine Kanzlerkandidatin gekürt werden. Dazu wurde der Hof in eine bizarre Parteitagsarena verwandelt. Überall hängen Plakate. Auf einem steht „Arbeitslose halbieren“, ein anderes kommentiert das Konterfei Merkels mit den Worten: „Darf das Kanzler werden?“ Über einem Gittertor schwebt ein Banner, auf dem das Motto des Abends prangt: „Die endgültige Teilung Deutschlands, das ist unser Auftrag.“ Hinter dem Tor tut sich ein zweiter, kleinerer Hof auf, der zur Hälfte von einer Betonmauer eingerahmt wird. Hier steht die Bühne, doch der Platz vor ihr ist für die etwa 400 Zuschauer viel zu klein.

Vor dem Hofeingang verteilen Praktikanten Flugblätter. Darin erklärt „Die Partei“ die Herkunft ihres Namens: „P wie Partei, A wie Arbeit, R wie Rechtsstaat, T wie Tierschutz, E wie Elitenförderung und I wie basisdemokratische Initiative“. „Die Partei“ steht für alles und nichts. Ihr einziger Zweck liegt darin, alle anderen Parteien vorzuführen. Die Titanic-Autoren haben alles in sie hineingepackt, was die deutsche Parteiengeschichte an Absurditäten zu bieten hat. Mit ihren funktionärsgrauen Anzügen und roten Krawatten erinnern Chefredakteur Martin Sonneborn und seine Kollegen an SED-Parteikader. Wie Schröder und Merkel lassen sie sich bei ihrem Einzug in die Arena von ihren Anhängern frenetisch bejubeln. Dabei werden sie von Fackelträgern flankiert, wie man sie von der NSDAP kennt.

Höhepunkt des Programms ist das „Kanzlerkandidatinnen-Casting“. Unter dem Motto „Es muss wieder ein Rock durch Deutschland gehen“ treten elf handverlesene junge Damen gegeneinander an. Nicht jede ist Angela Merkel an erotischer Anziehungskraft überlegen, dennoch bemühen sich alle, das Publikum durch weibliche Reize zu überzeugen. Graziös stolzieren sie den Catwalk entlang, legen mit einem koketten Lächeln den Kopf in den Nacken und zwinkern dabei neckisch mit den Augen.

Dann erklärt jede in einer kurzen Rede, warum sie Kanzlerin werden will. Da gibt es die lacklederne Domina, die die Weltherrschaft anstrebt. Oder die blonde Jessica, die sich in ihrem adretten Hosenanzug getrost für den Posten der CDU-Pressechefin bewerben könnte. Sie fordert „eine soziale Umverteilung von Gerechtigkeit und Land“.

Es gewinnen die Kandidatinnen 9 und 10. Aber das ist irgendwie auch egal, denn schon steht Rocko Schamoni auf der Bühne und trällert sein Wahlkampfliedchen: „Wir müssen eine Mauer bauen!“ Nachdem Schmitt dann gesprochen hat und alles vorbei ist, geht das Kreuzberger Publikum frohgestimmt nach Hause. Man hat dem Unsinn gefrönt, sich gut unterhalten und billig Bier getrunken. Und am 18. September wird man dann sein Kreuzchen da machen, wo man es immer macht: bei Schröder, Fischer und Lafontaine.