Debatten bis zum Morgengrauen

Ein Abend und eine lange Nacht im Sommer 1978. Die Autorin, damals noch Mitglied einer westdeutschen kommunistischen Partei, traf zum ersten Mal auf polnische Oppositionelle – und beschloss darauf, ihr Leben zu ändern. Ein subjektiv-objektiver Beitrag zum 25. Jahrestag der Solidarność-Gründung

Zunächst rechtfertigte ich mich noch mit dem undemokratischen Charakter der BRD. Immerhin hatte ich Berufsverbot

VON HELGA HIRSCH

Im Sommer 1978 fuhr ich das erste Mal in meinem Leben nach Polen. Durch Zufall, weil Bekannte sich ausgerechnet dieses in meiner Vorstellung gänzlich graue, kommunistisch freudlose Land als Ferienziel ausgesucht hatten. Obwohl noch Mitglied einer maoistischen Partei in Westdeutschland, hatte ich mir die Adressen einiger antikommunistischer Oppositioneller in den Hosensaum eingenäht. Mochten sie ideologisch gesehen auch Kontrahenten sein, so faszinierte mich ihr unbedingter Wille zum Widerstand, ihr Mut zum Widerspruch, der in so auffälligem Gegensatz stand zur durchgängigen Anpassung in der DDR.

Als die Freunde dann mit wachsendem Eifer in Masuren auf Pilzsuche gingen, machte ich mich auf den Weg nach Danzig, zu Bogdan Borusewicz, einem Historiker, Absolvent der Katholischen Universität in Lublin, (Mitbe)gründer der „Freien Gewerkschaft an der Küste“, der im demokratischen Polen stellvertretender Innenminister werden sollte.

Gut geschult in illegaler Arbeit, wählte ich für die Kontaktaufnahme die Abendstunden. Es war schon dunkel, als ich mir ein Kopftuch um das Gesicht schlang (später stellte sich heraus, dass der Sicherheitsdienst mich doch identifiziert hatte), in die S-Bahn nach Zoppot stieg und mit klopfendem Herzen und möglichst unauffällig nach der Straße des 23. März suchte. Der Anmarsch erschien mir endlos, die Suche nach der Wohnung in den oberen Stockwerken eines Hochhauses am Stadtrand von Zoppot zermürbend. Als sich nach dem Klingeln schließlich die Tür öffnete, stand ich verlegen vor dem gut dreißigjährigen, etwas gedrungenen Bogdan Borusewicz und brachte außer „Dzień dobry“ kein polnisches Wort über die Lippen. Nur mit Lächeln konnte ich mein wohlwollendes Interesse vermitteln: Er sprach weder Englisch noch Deutsch, ich weder Polnisch noch Russisch.

Nach einigen Minuten des Schweigens in einem Wohnzimmer, in dem ständig das Radio lief, um dem Sicherheitsdienst das Abhören zu erschweren, holte Bogdan ein Wörterbuch aus einer Schublade, blätterte, suchte und deutete mit dem Finger schließlich auf „warten“. Dann verschwand er.

Ich wartete. Fünf Minuten, zehn Minuten, mit zunehmender Angst, jederzeit könne der Geheimdienst erscheinen und die Ausländerin abführen. Wer würde dann über mein Verschwinden berichten? Wusste Bogdan doch nicht einmal, wie ich hieß – denn selbstverständlich hatte ich mich im Bewusstsein der Wanzen in seiner Wohnung nicht vorgestellt. Nach etwa einer halben Stunde, die mir wie eine halbe Ewigkeit erschien, kehrte Bogdan zurück, griff wieder zum Wörterbuch, blätterte, suchte und deutete dieses Mal auf „kommen“.

Inzwischen war es kurz vor Mitternacht.

Er eilte durch den Wald, der gleich hinter seinem Hochhaus begann, ich stolperte voller Aufgeregtheit über die Baumwurzeln hinter ihm her, so dass er mich schließlich an der Hand ergriff und hinter sich herzog: in die Wohnung eines Paars, das gerade die Rucksäcke packte, weil es am nächsten Tag zu einer Bergtour in die Tatra aufbrechen wollte. Aber uns blieb noch Zeit bis zum Morgengrauen. Und die Frau sprach Deutsch. Wir konnten miteinander kommunizieren.

So begann wohl eine der folgenschwersten Nächte meines Lebens. Ich hockte in einem alten Sessel zwischen Schuhen, Pullovern, Windjacken und schrumpfte angesichts der Fragen meiner Gesprächspartner immer mehr in mich zusammen. Einen Trotzkisten aus dem Westen hatten sie bereits kennen gelernt. Einen Franzosen, Mitglied einer Gewerkschaft. „Aber der war in Ordnung.“ Jetzt zählte ich zu derselben Kategorie verirrter Geschöpfe des saturierten Westens, die sie belächelten, selbst wenn sie „in Ordnung“ waren. Denn wie könne man nur in irgendeiner kommunistischen Organisation sein, wo die Verbrechen der Kommunisten offen auf der Hand lägen?

Zunächst versuchte ich meine Option noch mit dem undemokratischen Charakter des westdeutschen Systems zu rechtfertigen. Immerhin hatte ich Berufsverbot, immerhin durften Kommunisten keine Lehrer sein. Allerdings saß ich nicht im Gefängnis, konnte meinen Lebensunterhalt auf vielfältige andere Weise sichern, und den Protest gegen die undemokratischen Maßnahmen konnten selbst Kommunisten auf die Straße tragen.

Dann versuchte ich die „guten“ Maoisten gegen die „schlechten“ „Sozialimperialisten“ auszuspielen. Bis selbst ich spürte, dass die Betonung ideologischer Differenzen zwischen Peking und Moskau angesichts der generellen Verachtung der Menschenrechte für die Gesellschaften des sozialistischen Lagers völlig bedeutungslos war. Hatte die Kulturrevolution Abweichler und Klassenfeinde nicht ähnlich gnadenlos verfolgt wie Stalin seine Gegner? Und was interessierte Bogdan Borusewicz und das Danziger Ehepaar die verlogene Phrase, in deren Namen ihre Familien deportiert, verfolgt, getötet worden waren?

– Wie könne ich die Ermordung polnischer Offiziere durch die Sowjets in Katyń gut heißen?

– Wie stehe ich zu der verweigerten Hilfeleistung der Sowjets beim Warschauer Aufstand?

– Was halte ich von der Ausschaltung führender oppositioneller polnischer Politiker bei Kriegsende?

Wohl selten in meinem Leben habe ich mich so geschämt wie in jener Nacht. Denn ich musste die Antworten schuldig bleiben, weil ich die Sachverhalte nicht kannte. Ich wusste nichts

– von den 4.000 polnischen Offizieren, die vom NKWD 1940 in Katyń erschossen und 1943 beim Vormarsch der Wehrmacht exhumiert worden waren,

– von den sowjetischen Truppen, die im Sommer 1944 auf der Ostseite der Weichsel gestanden und dem Aufstand der polnischen Untergrund-Heimatarmee tatenlos zugesehen hatten,

– von den 16 führenden Mitglieder der polnischen Untergrund-Heimatarmee AK und der bürgerlichen Parteien, die nach Moskau entführt und dann in einem Prozess im Juni 1945 zu teilweise hohen Strafen verurteilt worden waren.

Ich hätte alles wissen können, denn wenn es Materialien zu diesen Themen gab, dann gab es sie im Westen. Aber aufgrund ideologischer Scheuklappen hatte ich alles „rechts“ liegen gelassen, was als Dissidentenliteratur oder als antikommunistische Darstellung hätte eingestuft werden können. Hatte mich vor Verunsicherung geschützt, indem ich das volle Ausmaß des sowjetischen und chinesischen Terrors erst gar nicht zur Kenntnis genommen hatte. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht hatte wissen wollen.

Wiedergutmachung leistete ich, indem ich der Bitte von Bogdan Borusewicz nachkam und eine Wachsdruckmaschine schmuggeln half: aus Amsterdam abholte und zur polnischen Fähre nach Travemünde brachte, wo sie ein Sympathisant der Freien Gewerkschaft nach Swinemünde schaffte. Wiedergutmachung leistete ich außerdem, indem ich – noch ohne Kenntnis des Polnischen – eine Dissertation über die polnische Opposition zu schreiben beschloss. Und um die Kenntnis der Sprache zu beschleunigen, die ersten Gespräche mit den Oppositionellen zu führen und Materialien der verschiedenen, schon existisierenden Untergrundorganisationen zu sammeln, fuhr ich im Sommer 1980 mit einem zweimonatigen Touristenvisum nach Polen.

Drei Tage nach meiner Ankunft in Warschau begann der Streik auf der Danziger Lenin-Werft, vom fünften Streiktag an war ich täglich auf dem Gelände. Ich erlebte die Ausweitung eines lokalen zu einem landesweiten Streik, die Ausweitung von primär ökonomischen zu politischen Forderungen, die Sprengkraft der Sehnsucht nach nationaler Unabhängigkeit und den unbedingten Willen, in Überschreitung der politisch gesetzten Grenzen nach einem neuen, weniger demütigendem Kompromiss mit der Macht zu suchen – selbst auf die Gefahr hin, dass dieser Versuch mit einer Niederlage endet oder gar mit dem Leben bezahlt werden muss. Denn in den 18 endlos langen Tagen und Nächten bis zum 31. August drehte sich trotz aller Verhandlungen mit der polnischen Regierungsdelegation alles immer und immer wieder um die Frage: Marschieren die Sowjets ein oder nicht?

Damals spürte ich: Keine Analyse kann in Umbruchsituationen das riskante Experiment ersetzen. Kein Politiker oder Wissenschaftler kann mit Bestimmtheit voraussagen, was wann möglich ist. Erst der vernünftig-unvernünftige Streik von Solidarność gab das Signal für den endgültigen Aufbruch aus der Unfreiheit. Und 1989 wurden auch wir Deutschen Nutznießer dieser gewaltfreien Revolution, über die sich nicht wenige wegen ihres Bündnisses mit Papst und Kirche intellektuell erhoben hatten.

Helga Hirsch lebt als Publizistin in Berlin. Bis 1994 war sie Korrespondentin der Zeit in Warschau. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Schweres Gepäck. Flucht und Vertreibung als Lebensthema“ bei der Edition Körber-Stiftung