heute in hamburg
: „Zivilisation erst an der Küste“

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Jürgen Elvert, 62, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Köln. Seit 2013 ist er Inhaber eines Jean-Monnet-Lehrstuhls für Europäische Geschichte.

Interview Alexander Diehl

taz: Herr Elvert, sind Menschen umso moderner, je näher am Wasser sie leben?

Jürgen Elvert: Das hängt von den Rahmenbedingungen ab. Wenn man sich die Geschichte anschaut, wird eines deutlich: Die Zivilisationen haben sich erst dann gebildet, als die Menschen von den Bergen stiegen und an die Küsten kamen, um sich dort niederzulassen. Dafür gibt es viele Beispiele, schon aus der klassisch griechischen Antike: Die Poleis sind alle am Meer gegründet worden – darin liegt der Grund für ihre Erfolgsgeschichte.

Haben Abenteurer die Meere erschlossen, und also die Welt – nicht Regierungen?

Die Ideen kommen in der Regel von einzelnen Akteuren, die dann versuchen, Unterstützer zu finden – solche Expeditionen waren ja sehr teuer. Es gab also Top-down-Initiativen, es gab aber auch sehr viele Bottom-up-Initiativen. In Frankreich etwa ist im Verlauf der Neuzeit der Staat ein aktiver Akteur, in den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich sind es in erster Linie Privatleute. Und wenn Sie sich dann noch die Querverbindungen ansehen, und deswegen plädiere ich ja für eine europäische Dimension: Das waren keine nationalen Initiativen im heutigen Sinn.

Wozu Europäische Geschichtsschreibung?

Buchvorstellung „Europa, das Meer und die Welt“: 18.30 Uhr, Internationales Maritimes Museum, Koreastraße 1. Eintritt frei, Anmeldung erbeten unter ☎300 92 30 22 oder wede@imm-hamburg.de

Sie bietet uns neue Erkenntnisse. Das Buch habe ich mit einem gewissen Zorn im Bauch geschrieben: Vor einigen Jahren besuchte ich eine Ausstellung im National Maritime Museum in Greenwich, da ging es um die Geschichte der British East India Company. Die hätte es aber so niemals gegeben, sie wäre nie so erfolgreich gewesen ohne den großen Konkurrenten VOC, die Niederländische Ostindien-Kompanie. Diese Querverbindung jedoch wurde nur in einer versteckten, schattigen Ecke gegeben. So darf man Geschichte nicht vermitteln! Damit wird ein völlig verzerrtes, einseitiges Bild erzeugt. Die einzelnen Nationen in Europa waren wichtige Akteure, sicher, aber sie hätten nie so handeln können, wie sie es taten, wenn es nicht die gesamteuropäischen Interaktionen gegeben hätte, die Kommunikation, den Wettbewerb, den Streit.

Das klingt heute wieder ganz schön brisant.

So gesehen, habe ich nicht nur ein historisches Buch geschrieben, sondern auch ein dezidiert politisches. Ich beschäftige mich seit 25 Jahren mit der Europäischen Geschichte und beo­bachte mit Erschrecken, wie Europa an den Rändern zerfranst. Gegen solche Entwicklungen müssen auch wir Wissenschaftler kämpfen – das können wir natürlich nur mit unseren Mitteln.