Regierungskrise in Armenien: Eine kleine Revolution

Im Dorf Debed haben sich Schüler, Lehrer und der Schuldirektor landesweiten Protesten gegen die Regierung angeschlossen.

Die Schülerin Luiza Ghazaryan und einige Klassenkameraden

Ist gerne eine Anführerin: die Schülerin Luiza Ghazaryan Foto: Matteo Tacconi

DEBED taz | An dem Morgen, an dem die 16 Jahre alte Luiza Ghazaryan ihr Dorf dazu bringt, bei der Revolution mitzumachen, geht sie erst einmal wie immer zur Schule. Sie läuft links aus dem Haus den braunen Sandweg hinauf, vorbei am den Hühnern, die sie nicht füttern muss, weil ihr Vater das macht und an den Gärten der Nachbarn.

Um 9.30 Uhr soll der Unterricht anfangen, armenische Sprache, aber da hat Luiza schon ihre Freundinnen und Freunde überredet, die Stunde bis zu dem Tunnel hoch zu laufen und ihn zu blockieren.

Sie überreden die Lehrerinnen und Lehrer mitzukommen, andere Erwachsene aus dem Dorf. Sie werden über einhundert Leute sein, als sie oben an der Straße ankommen. Dabei leben in Debed, Luizas Dorf im Norden Armeniens, gerade einmal 900 Leute.

Passiert ist das am zweiten Mai – einen Tag, nachdem das armenische Parlament den Oppositionsführer Nikol Paschinjan nicht zum Premierminister gewählt hat. Aber der Reihe nach: Seit Wochen demonstrierten in mehreren Städten des 2,5 Millionen-Einwohner-Landes Armenien Hunderttausende. Sie wollten einen autokratischen Politiker loswerden, der das Land seit zehn Jahren mitsamt seiner Republikanischen Partei beherrscht: Sersch Sargsjan.

Basecap und Tarnklamotten

Er war so lange Präsident, bis es laut Verfassung nicht mehr ging und wollte ab April als Premierminister weitermachen und die Machtbefugnisse des Präsidentenamtes mal gleich ebenso mitnehmen. Dagegen protestierte ein Mann ganz besonders eindrücklich: Nikol Paschinjan, ein Abgeordneter der Mini-Oppositionspartei Yelk, er ging mit Basecap und Tarnklamotten angetan auf eine Wanderung durch Armenien.

Ein Marsch wie der von Mahatma Ghandi sollte es werden, allerdings liefen nicht besonders viele Leute mit. Dann formierte sich in Jerewan eine Oppositionsbewegung unter dem twitterfreundlichen Slogan #RejectSerzh. Auch das waren erst einmal nur um die 60 Menschen, die auf dem großen Platz in der Mitte der Haupstadt demonstrierten.

Aber als sich Paschinjans Anhänger und #RejectSerzh zusammen taten, wuchsen die Proteste rasch an. Am 23. April trat Sargsjan zurück. Der Weg war frei für seinen Widersacher Paschinjan, allerdings wählte ihn das Parlament, in dem die Republikanische Partei noch immer die absolute Mehrheit hat, am 1. Mai nicht. Landesweite Riesenproteste folgten. Auch in Debed, dem Dorf, in dem Luiza lebt. Am 8. Mai bekommt Paschinjan seine zweite Chance.

Auf Facebook hatte Luiza Ghazaryan von der Idee gelesen, auch sie hier weit ab der Haupstadt könnten etwas machen. Sie, die von sich sagt, sie sei gerne eine Anführerin, hat dann erst ein, zwei Kinder aus ihrer Klasse überzeugt und dann haben sie mit den anderen geredet.

Ein Märchen

Man könnte die Geschichte von der Tunnelblockade leicht für ein Märchen halten, wenn nicht 14 Kinder ganz aufgeregt davon reden würden. Auf Russisch, Englisch, Armenisch. Und wenn es auf Youtube nicht ein Video davon gäbe, auf dem Luiza in einem olivgrünen Hemd eine armenische Fahne schwenkt und Menschen aus Debed und vier anderen Dörfern einen Ringelreihen mit Hüpfeinlagen tanzen.

Ein echter Journalist habe das gemacht, so erzählen sie es alle. Und sie alle sind wie betrunken von der Aussicht, bald könnte ein anderer dieses Land regieren.

Nikol Paschinjan mag von Deutschland aus wie ein Angler in Nordbrandenburg aussehen, aber hier macht er Jesus Konkurrenz. „Er wird gewinnen und dann wird er unser Land verbessern“, sagt Luiza.

So ähnliche Sätze sagen auch ihre Freundinnen und Freunde. Das ist mehr als das Geschwärme von Teenagern. Zum einen weil auch Erwachsene in den Straßen von Jerewan so reden. Zum anderen kennt Luiza die Probleme ihres Landes ziemlich gut. Weil es die Probleme ihrer Familie sind.

Schwere Operation

„Meine Mutter arbeitet als Russischlehrerin an der Schule und sie verdient gerade einmal 50.000 Dram, das sind 100 Euro“, erzählt sie auf Englisch, während sie auf einem Stuhl vor ihrem Haus sitzt. Ihre Eltern sind noch nicht wieder da. Seitdem ihr Vater eine schwere Operation hatte, fährt die Mutter mit ihm öfter in die Stadt zum Arzt.

Sie wischt sich ein paar Tränen aus den Augen als sie erzählt, wie ihre Familie Schulden machen musste, denn das Gehalt der Mutter reicht nur für die Medizin des Vaters.

Die Eltern könnten auch schon längst wieder zurück sein, denn wenn die Straße nicht so eine Buckelpiste wäre, bräuchte man wohl eher 15 statt 40 Minuten bis zur Stadt. „Es ist nicht normal, wenn Lehrer so wenig verdienen“, sagt Luiza, „es ist auch nicht normal, wenn die Menschen keine Möglichkeit und keine Zukunft sehen, weil es keine Arbeit für sie gibt.“

Dabei kommt Debed relativ gut weg für ein abgelegenes Dorf in den Bergen. Klar, gingen vor zehn Jahren noch 160 Kinder in Luizas Schule, heute sind es 95. Aber das sind neun mehr als vor vier Jahren.

Leben von Honig

Von den 900 Menschen im Ort arbeiten einige noch in den Steinminen und in den Verarbeitungsfabriken ringsum. Honig ist in den vergangenen Jahren ein großes Ding geworden, jede dritte Familie kann irgendwie auch davon ein bisschen leben. Und sie haben einen neuen Bürgermeister, einen jungen und den ersten, der nicht von der Republikanischen Partei ist.

Ashot Ghazaryan ist dreißig Jahre alt und nicht mit Luiza verwandt. Vor seiner Wahl hat er wie so viele hier als Steinmetz gearbeitet und selbst, wenn er wenig geschafft hat, noch 300 Euro verdient. Als Bürgermeister reibt er sich in seinem karg möblierten Büro mit dem Tresorschrank aus hellem Blech vor Müdigkeit die Augen und bekommt gerade einmal 200 Euro, das ist in etwa der Durchschnittslohn in Armenien.

Ghazaryan hat von den 487 Stimmen im Dorf 153 bekommen, als unabhängiger Kandidat. Der Konkurrent von der Republikanischen Partei kam auf 134. Er sagt in etwa das, was Lokalpolitiker in Deutschland auch sagen würden: Probleme pragmatisch lösen, das Dorf brauche bessere Straßen und bessere Beleuchtung.

Der kleine Mann mit dem kantigen Gesicht und Segelohren ist kein Euphoriker und jedes Wort muss man ihm aus der Nase ziehen. Dass Ghazaryan nicht Bürgermeister in Sachsen oder Schleswig ist, merkt man dann, wenn er über die Arbeitslosigkeit im Dorf redet: „Etwa 40 Prozent der Leute hier haben keine Jobs“, sagt er, aber er will nicht klagen. War er bei den Protesten gegen Sargsjan dabei? Er lächelt. Ja. Ein bisschen habe er schon mitgemacht.

Vom Erdbeben zerstört

Die Schule von Luiza Ghazaryan liegt gleich neben dem grauen Bürgermeisterhaus, etwas den Hügel hinauf. Neben dem Gebäude steht eine hölzerne vernagelte Bretterbude in verblichenem Himmelblau, hier hatten die Schüler Unterricht, nachdem ein Erdbeben in den 80er Jahren viele Häuser in der Gegen und auch Teile der Schule zerstört hatte.

Seit damals, 27 Jahre lang, wurde keine neue Toilette eingebaut. „Es gibt sicher schlimmere Dinge“, sagt Zaven Kachatryan, der Direktor, „die meisten Kinder wohnen ja nicht weit von hier.“ Außerdem hat eine Hilfsorganisation, der Children Fund of Armenia, inzwischen neue Toiletten eingebaut. Braune Kacheln bei den Jungs, weiße bei den Mädchen.

Kachatryan, der in seinem Job gerne ein kariertes Jacket trägt, spricht langsam und bedächtig. Er zeigt einen Schrank, gleich neben den neuen Toiletten, in dem sich Zahnbürste an Zahnbürste reiht. Karies und andere Zahnkrankheiten sind ein großes Problem in der Gegend. „Weil die Eltern den Kindern das Putzen nicht richtig beibringen“, sagt der Direktor.

Aber auch wegen der Mangelernährung. Ohne die Hilfe eben jener Organisation, die auch schon die Toiletten spendiert hat, würden viele Kinder gar nicht auf das tägliche Maß an Fett kommen, das sie brauchen. „Dann wären sie unternährt“, sagt Kachatryan und legt die Hände ineinander.

Weißes Raumschiff

Die Organisation hat auf einer Wiese vor dem Ort ein so genanntes Smart Center hingebaut, es sieht aus als wäre ein weißes Raumschiff gelandet. Der Gründer ist ein Armenier aus der Diaspora, er lebt in den USA. Vor allem den Dörfern wolle man helfen, heißt es in der Broschüre.

Sie geben den Kindern nicht nur zu essen, sie bringen ihnen auch Englisch bei. Den Kindern, die in dem weißen Raumschiff nach der Schule noch zusätzliche Stunden nehmen, ist deutlich anzumerken, wie dankbar sie dafür sind, weil sich jemand in dieser verlassenen Gegend für sie interessiert.

Den Gründer des Children Fund of Armenia verehrt Luiza fast so sehr wie Nikol Paschinjan, sie hat ihm ein Gedicht geschrieben. Luiza dichtet gerne, leider möchte ihre Mutter, dass sie irgendetwas mit Wirtschaft studiert.

Der armenische Staat hat bisher nie etwas für Luiza getan, über das sie ein Gedicht hätte schreiben können. Vielleicht auch gar nicht tun können, selbst wenn die Oligarchen des Landes endlich ordentlich Steuern zahlen würden.

Etwas Geld für Reparaturen

92.000 Dram (157 Euro) bekommt Schuldirektor Kachatryan pro Jahr von der Regierung für ein Kind in der ersten bis vierten Klasse, 106.000 Dram (183 Euro) für ein Kind in der fünften bis neunten und 112.000 Dram (193 Euro) für jedes Kind in den zehnten, elften und zwölften Klassen. Damit muss er Schulmaterialien kaufen, das Essen für die Kinder und für Reparaturen am Dach bleibt besser auch immer ein bisschen übrig.

Sowohl der Schuldirektor als auch der Bürgermeister scheinen weit weniger elektrisiert als die Kinder angesichts dessen, was in Jerewan passiert. Luiza Ghazaryan sagt später, als ihr Unterricht vorbei ist und sie sich mit ihrer besten Freundin Sateny vor der Schule trifft, der Direktor unterstützte eigentlich die Republikanische Partei.

Ihre beste Freundin nickt dazu und sagt, ja, deswegen seien die Kinder so stolz auf ihren Direktor, der sei nämlich bei der Revolution am Tunnel auch dabei gewesen. „Wir haben ihn überredet“, sagt Luiza. Für Sateny hat sie auch schon mal ein Gedicht geschrieben.

Willst Du eigentlich in Deinem Dorf bleiben, Luiza? „Nein, ich will weg.“ Und daran wird auch Nikol Paschinjan nichts ändern? „Vor ihm hätte ich gleich das Land verlassen. Jetzt will ich bleiben. Und vielleicht irgendwann ins Dorf zurückkommen und hier etwas verbessern.“

Sie wollen jedenfalls feiern, wenn Paschinjan am 8. Mai gewählt wird, sagt Luiza. Nur ein Ort, der fehle noch. Das alte Kulturhaus sei viel zu klein. Man könne doch in der Schule feiern, schreibt ihre Freundin später per Facebook-Messenger. Rückfrage: Und das macht der Direktor mit, der doch angeblich die Republikanische Partei unterstützt? Eine Antwort ist bist jetzt nicht gekommen.

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