Die Politik – ein seltenes Gut

Political Studies (X und Schluss): Die Luxuslinke predigt Wein, die Poplinke beweint ihre eigene Entpolitisierung. Wo sind die Grundoppositionen hin, die früher so schön halfen? Und wer kam nur auf diese seltsame Idee, dass Politik Spaß bringen soll?

■ Wie immer die Neuwahlen ausgehen – auf dem weiten Feld zwischen Politik und Leben hat sich etwas verschoben. Was kann Politik, was soll sie können, was nicht? In unserer Serie „Political Studies“ überlegen AutorInnen, welche Rolle Politik in ihrem Leben spielt, ob die offizielle Politik das Politische noch repräsentiert

VON JAN ENGELMANN

Na, auch den Wahl-O-Mat bemüht? Zum zweiten Mal bei einer Bundestagswahl angeboten, ist das Internet-Tool bereits nicht mehr aus der politischen Willensbildung wegzudenken. Ausgehend von der Zustimmung zu bzw. Ablehnung von dreißig Thesen wird die Neigung zu einer Partei errechnet. Für bislang Unentschlossene ist das eine prima Sache, und auch sonst ist es ganz reizvoll, einmal seine Position zum Kündigungsschutz oder den Agrarsubventionen zu überdenken. Doch Vorsicht ist geboten. Auch jahrzehntelang gültige Gewissheiten über das politische Koordinatensystem geraten bei dieser freiwilligen Selbstkontrolle gehörig ins Wanken. Wenn man nämlich jedes Mal „ja“ anklickt, kommt als Präferenz die Linkspartei heraus. Von der Kraft der Negation wollen Marxens Schwippschwager wohl nichts mehr wissen.

Auch sonst scheint sich bei den Sozialisten einiges geändert zu haben. Den etwas müffelnden Materialismus, wonach die Basis den Überbau bestimmt, hat man bereits im Haus der Geschichte abgegeben. Gregor Gysi, neuerdings als schwuler Poster-Boy zu bestaunen, dekretiert: „Ein Linker muss nicht arm sein, er muss nur gegen Armut sein.“ Sein gut gebräuntes male couple Oskar Lafontaine, dessen architektonische Vorlieben nun einem größeren Publikum bekannt sein dürften, wird es gerne vernommen haben. Endlich Schluss mit der Narretei, Verteilungsgerechtigkeit schon beim persönlichen Geschmack durchsetzen zu wollen.

Auch die andere Seite übt sich in der Loslösung von Sein und Bewusstsein: Angela Merkel möchte nach ihrer Papst-Audienz „Halt und Geborgenheit“ mit einer geilen Flat-Tax-Revolution stiften, ihr Generalsekretär Volker Kauder haut haufenweise Podcast-Enzyklika („iKauder“) raus und tanzt auf der CDU-Krönungsmesse enthemmt zu den Worten des Propheten Freddie M.: „I’m burnin’ through the sky yeah / Two hundred degrees / That’s why they call me Mister Fahrenheit / I’m trav’ling at the speed of light / I wanna make a supersonic woman out of you.“ Und dann war ja gerade auch dieses funky TV-Duell, begleitet von Tönen, die es zum finalen Countdown zwischen Mann und Frau hochjazzen wollten.

Hey Leute, was ist hier eigentlich los? Wo sind die Grundoppositionen hin, nach denen man früher die Daten aus der politische Wirklichkeit sortieren konnte? Da gab es eine Linke, die prinzipiell der Jugend nahe war, weil sie deren Begehren nach (optimistischen wie apokalyptischen) Zukunftsvisionen befriedigen konnte. Und da gab es eine Rechte, die vornehmlich daran interessiert war, dass alles so blieb wie vorher, und nur manchmal zu Volkszählungen oder Asylrechtsverschärfungen griff, wenn es ihr zu bunt wurde. Heute dagegen haben wir die Alternative zwischen einer Linken, deren ordnungspolitische Phantasie ungefähr an 1975 erinnert, und einer Rechten, die ihre umstürzlerische Live-fast-Rhetorik mit allerhand popkulturellem Zeugs aufbrezelt.

Mit dem Marketing von Parteien ist es inzwischen so wie mit den neuesten Kreationen aus Mailand oder Paris. Erlaubt ist, was knallt, für die Konsumenten spielt das sowieso keine Rolle, weil sie sich derlei Albernheiten nicht leisten können oder wollen. Die angebliche Schicksalswahl, die über Wohl und Wehe einer ganzen Nation entscheiden soll, droht vollends zur „Egal-Wahl“ (Neon) zu werden. Gänzlich unabhängig davon, welche dollen Optionen man uns jetzt lockend vor die Nase hält – Kopfpauschale versus Bürgerversicherung, Bierdeckel versus Zettelwirtschaft, Merz I versus Grundeinkommen –, die Gewissheit, dass die gut geölte Konsensfindungsmaschinerie des kooperativen Föderalismus solche konfliktbeladenen Konzepte wieder ratzfatz einsaugen wird, eint die Besitzstandswahrer und die Utopisten, egal welcher Couleur. Wie sagte noch Edmund Stoiber in vollendeter repressiver Toleranz? „Jeder darf seine Visionen haben, das ist in Ordnung.“

Das Bedenkliche daran ist, dass in die Simulation politischen Handelns nur allzu gerne eingewilligt wird. Judith Mair und Silke Becker, altersmäßig der als apolitisch gescholtenen Generation Golf zugehörig, ziehen in ihrem Buch „Fake for real. Über die private und politische Taktik des So-tun-als-ob“ erleichtert den Schluss, dass die Ära der „Objektivitätsapostel“ mit ihren ideologischen Scheuklappen endgültig überwunden sei. Statt großen Posen in der politischen Arena empfehlen die beiden Autorinnen smartes Verhalten in der Warenwelt: „Als aktive Konsumenten sind wir zugleich immer auch konsumierende Aktivisten, die sich aus einem gut bestückten Freizeitparksortiment und Supermarkt das herauspicken, was ihrer ‚politischen Gesinnung‘ nahe kommt.“

Es ist bezeichnend für das Selbstverständnis vieler Menschen in den Dreißigern, die statt von Bebel von Baudrillard gelernt haben, politische Gesinnung nur noch in Anführungszeichen denken zu können. Der Austausch von widerstreitenden Positionen, die Geltungsansprüche von Welterklärungsmodellen wird mit Kusshand den „immergleichen selbsternannten Diskurshoheiten“ (Mair/Becker) überlassen. Man selbst wähnt sich in der pfiffigeren Position und verfolgt amüsiert das Politainment der Titanic-Partei und die situationistischen Einflüsse bei Guido Westerwelle.

Die schonungslose Analyse hat man drauf, klar, doch um das Eingeständnis, über die jahrelangen Dekonstruktionsarbeiten irgendwie auch seinen Politikbegriff verloren zu haben, drückt man sich noch herum. So gerät denn auch der Versuch der Poplinken, die voraussichtliche Abwahl von Rot-Grün mit einer eigenen Positionsbestimmung zu verknüpfen, zum schwierigen Unterfangen. Unter dem Titel „Demokratie – langweilig wird sie nie“ sucht Wolfgang Frömberg in der Spex Begründungen für den Auseinanderfall von counter culture und „echter“ Politik. Warum gibt es in seinem Magazin eigentlich keine Politikseiten? Weil es keinen Sinn mache, „die Politik wieder aus dem Produkt zu extrahieren, um sie dann strukturell ins Abseits zu stellen“. Aber Politik umfasst doch viele Sphären, nicht nur die des Konsums? Ja, einerseits. Auch Frömberg sieht sie spätestens seit der Apo als ganzheitliches Phänomen, welches das Alltagsleben durchdringt und nicht nur an die Institutionen delegiert werden kann. Letztlich aber springt nur ein halbherziger Vorschlag für ihre anstehende Neuformulierung heraus: „Politisch könnte sein, Vergnügen und Elend kultureller Produktionsbedingungen zu ihrer Zeit zu thematisieren.“ Das hieße also, dass die prekären Arbeitsbedingungen bei Privatsendern oder der schwierige Erhalt der Künstlersozialkasse als Themen für die Poplinke durchaus anschlussfähig sein müssten. Komisch nur, dass man in Spex so selten darüber liest.

Vergnügen und Elend, darum scheint es auch der PDS/WASG zu gehen, wenn sie nach Motivationen für staatsbürgerliches Engagement und einem erweiterten Begriff der Solidarität sucht. So sagte Gregor Gysi als Replik auf den Vorwurf der „Luxuslinken“, man predige Wein statt Wasser, weil man eben allen Menschen wünsche, dass sie sich gewisse Dinge leisten könnten. Die Lebensstil-Fixierung, die in der Poplinken zu einer Abkehr von „drögen“ Themen wie Umweltschutz, Verkehrspolitik oder Familienförderung geführt hat, dient auch Gysi/Lafontaine als probate Strategie, um von Essentials abzulenken: Wie denken sie sich eigentlich die Zukunft der Erwerbsarbeit? Ist ein geregelter Job von neun bis fünf wirklich noch der Kitt, der uns im Innersten zusammenhält? Welche neuen Übereinkünfte, zeitlichen Arrangements bräuchte eine Gesellschaft, die sich zunehmend in unterschiedliche Tätigkeits- und Durchhängkulturen aufspaltet und deren Wertekonsens gerade einmal bis übermorgen reicht?

Fragen, um deren Beantwortung sich auch die anderen „Wettbewerber“, wie sich die Parteien neuerdings selber nennen, herumdrücken. Ein stilles Einverständnis scheint darüber zu bestehen, dass nur Probleme kommunizierbar sind, die in die kurzfristige Aufmerksamkeitsspanne passen, welche die elektronischen Medien uns längst angewöhnt haben. Selbst die Zeitungen kaspern nun im Sekundentakt der Wahlkampfmanager herum, vermelden jeden Pups, der irgendeinem (ungenannten) Präsidiumsmitglied entfleucht ist, suhlen sich in der Sprache der Kriegsberichterstattung, vermelden Frontlinien, Waffenstillstände und Überläufer. „The Show must go on“ ist keine Erfindung von Kauders Lieblingssänger, sondern das ungeschriebene Gesetz des Politikbetriebs. Doch wer kam eigentlich auf die Idee, dass Politik unbedingt unterhalten soll? Wer erfand die bestürzend banale Formel, wonach man die Leute „abholen“ müsse, also da, wo sie ohnehin schon sind?

Politik ist selten lustig. Sie ist auch nicht schnell, sondern zielt auf langwierige Prozesse in einem sehr komplexen Ensemble, das wir früher einmal „Gemeinwesen“ nannten und heute „Standort im Wettbewerb“. Politik ist oftmals dröge, feilt lange an Regelungen, schreibt sich Gesetze. Politik muss daher kein Pop sein, schon gar nicht in einem Land, das sich Radioquoten ausdenkt, um seine totgeweihte Sprache zu schützen. Politik ist, und das ist der entscheidende Punkt, ein seltenes Gut, das ohne Beteiligung zu Grunde geht. Das einfach verschwindet, wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. Alle wissen das und betätigen sich trotzdem als Totengräber der Partizipation. Übrigens: Zu allem nein sagen hilft auch nicht. Denn wer beim Wahl-O-Mat sämtliche Thesen ablehnt, muss FDP wählen.