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Inklusion an Regelschulen ist eine Herausforderung für alle Beteiligten. Damit sie gelingt, muss es dort nach Experteneinschätzung mehr speziell geschulte Pädagogen geben

Wer gemeinsam lernt, kann auch gemeinsam den Alltag meistern Foto: Michael Schick/imago

Von Jana Janika Bach

Gern gebe sie Auskunft, erklärt die junge Frau am Telefon, zu ihrem Alltag als Lehrerin, dass sie pro Inklusion eingestellt sei, aber sie habe die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht. Ihren Namen will sie lieber nicht genannt wissen, ebenso wenig wie den der Gesamtschule, an der sie in Nordrhein-Westfalen unterrichtet. Zu aufgeladen sei die Stimmung, zu empfindlich reagiere die jeweilige Partei. Solche Aussagen und die Nervosität, mit der die aktuellen Debatten geführt werden, lassen aufhorchen.

2009 setzte Deutschland mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention den Startschuss für die sogenannte Inklusion. Seither haben Kinder mit Behinderung das Recht, eine Regelschule zu besuchen. Ähnlich wie die junge Lehrerin aus NRW befürworten auch viele andere Fachkräfte, Eltern und Schüler die Idee, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Nur, was theoretisch angestrebt wird, birgt in der Praxis seine Tücken.

Statt zu fördern, fahre die Politik einen Sparkurs, lautet einer der Hauptvorwürfe. Lehrerverbände und die in vielen Bundesländern gegründeten Elterninitiativen fordern darum mehr Geld. Denn es fehlt an allen Enden und Ecken, an Fahrstühlen, Förder- und Rückzugsräumen, an Zeit – und vor allem an Fachpersonal. Die Politik habe bei der Verpflichtung zur Inklusion im Bildungsbereich die Folgekosten völlig außer Acht gelassen, sagt Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des VBE (Verband Bildung und Erziehung). „Man hat der Bevölkerung suggerieren wollen, das Thema Inklusion sei kostenneutral hinzubekommen.“

Seit Jahren schon wird darüber gestritten, auch auf rechtlicher Ebene, rein sachlich geht es bei der Diskussion selten zu. Jüngstes Beispiel: Einer Bremer Schulleiterin, die vor dem Verwaltungsgericht gegen die Einrichtung einer Inklusionsklasse an ihrer Schule klagt, wurde einmal „Zivilcourage“ attestiert, dann aber auch, „als Warlord in einem Schurkenstaat“ zu agieren. Es geht in der Debatte um Grundsätzliches ebenso wie um Detailfragen. Etwa darum, ob Kinder mit geistiger Behinderung an einem Gymnasium generell „gut aufgehoben“ seien.

Im konkreten Fall will die Bremer Direktorin Kinder mit besonderem Förderbedarf nur dann aufnehmen, wenn zuvor Regellehrer geschult oder zusätzliche Räume geschaffen wurden – bisher gibt es an der Schule keine einzige Lehrkraft mit sozialpädagogischer Qualifikation. Oft heiße es, die Schulen müssten die Umstellung auf Inklusion meistern, ohne dass das Wie geklärt sei, bemängelt auch der VBE-Vorsitzende Beckmann. Die vielen Klagen aus den Kollegien zeigten, dass die Schulen damit überfordert seien. Damit die Inklusion gelingt, muss es dort nach Experteneinschätzung mehr speziell geschulte Pädagogen geben. Weil die aber Mangelware sind, können Stellen für sozialpädagogische Fachkräfte heute oft nicht besetzt werden.

Zwingend ist laut Beckmann zudem die Fort- und Weiterbildung des gesamten Schulpersonals. Seine Hoffnung ist, dass der Bund aktiv wird und auch finanziell unterstützt. Doch selbst dann brauche es Zeit. „Einen Lehrer auszubilden dauert im Grunde sieben Jahre. Die Länder müssen jetzt handeln“ und Kapazitäten an den Universitäten schaffen, sagt Beckmann. „Sonst werden wir uns in zehn Jahren wieder über das gleiche Thema unterhalten.“

Viele der Schulgebäude sind zudem bis heute nicht barrierefrei. „Die baulichen Vorrausetzungen sind aber genauso wichtig wie die sozialen“, sagt Marcus Graubner, Vorsitzender des ABID (Allgemeiner Behindertenverband in Deutschland e. V.). Inklusiv zu lernen bringe nichts, wenn der Rollstuhlfahrer plötzlich vor Stufen stehe, „die für ihn unüberwindbar sind“.

Doch Graubner ist wie Beckmann zugleich davon überzeugt, dass sich der Großteil der Kinder mit Handicap normal „beschulen“ ließe – auch wenn im Einzelfall die Förderschule als Schutz- und Förderraum das Richtige sei. Für besonders herausfordernde Kinder, etwa solche mit emotional-sozialen Entwicklungsstörungen, müssten die Schulen allerdings ganzheitlich aufgestellt werden, meint Beckmann – „durch sogenannte multiprofessionelle Teams, in denen Schulsozialarbeiter, Schulpsychologen und Schulgesundheitsfachkräfte Lehrer unterstützen.“

An der Heinrich-Zille-Grundschule in Berlin-Kreuzberg geht man die Inklusion offensiv an. „Wir sind eine Schwerpunktschule für geistige Entwicklung – mit langjähriger Erfahrung“, erklärt Astrid Runte. Die Einrichtung wurde für ihre inklusive Arbeit unter anderem mit dem Jakob-Muth-Preis ausgezeichnet. „Die Bereitschaft der Kollegen ist hoch“, bestätigt Sabine Koller-Hesse. Die beiden Lehrerinnen sind wie alle Fachkräfte hier besonders geübt in Organisation. Aber alles auf Kante, so Runte: „Ich mache auch die Stundenplan-Steckung und den Vertretungsplan“, bei Krankmeldung eines Kollegen werde es eng, „kritisch, wenn dann noch eine Medikamentenausgabe dazukommt.“ Zum Einsatz kommen etwa Epilepsie-Notfallmedikamente, erklärt Koller-Hesse: „Aber wir haben auch Diabetes-Kinder.“ Da müssen dann alle achtsam sein, Blutzucker messen, Insulin-Pumpen verteilen.

Seit 1992 veranstalten zum „Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung“ jährlich zum 5. Mai diverse Verbände und Organisationen Aktionen und Demonstrationen, Podiumsdiskussionen und Informationsgespräche in ganz Deutschland.

Ins Leben gerufen wurde der Protesttag durch eine Initiative der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland (ISL e. V.). Er soll helfen, den im Grundgesetz festgelegten Anspruch der Gleichberechtigung in der Lebenswirklichkeit zu verankern.

Der 5. Mai wurde dafür ausgewählt, weil am selben Tag der Europarat seine Gründung durch die Unterzeichnung der Satzung von 1964 feiert – eine Erinnerung daran, dass alle Menschen gleich sind. Jedes Jahr entwickeln die Veranstalter ein Motto aus der aktuell sozialpolitischen Lage, unter dem sich die Verbände versammeln. Dieses Jahr lautet es: „Inklusion von Anfang an“.

2018 sei lautstarker Protest angesagt, verkünden Verbände. In Berlin startet die Demo um 14 Uhr am Nollendorfplatz. Die Route führt via Wittenbergplatz zum Breitscheidplatz, wo auch die Abschlusskundgebung stattfinden wird. Anschließend folgt ein Programm, zu dem auch Live-Musik gehört.

„Viel schneller noch als wir bemerken die Klassenkameraden, was hilfebedürftige Kinder brauchen, so Koller-Hesse, „sie entwickeln ein Gespür füreinander“. Von Anfang an werde mit den Kindern viel über Gleichwertigkeit trotz Andersartigkeit geredet. Selbstverständlich komme es dennoch zu Konflikten. Dann drehe es sich aber häufiger um Schüler mit einer Verhaltensauffälligkeit, weniger um die mit Behinderung. „In einer der ersten Klassen hatten wir einen Jungen, der hat viel geweint, war oft wütend und hat Trotzanfälle hingelegt“, so Koller-Hesse. Gemeinsam hat die Klasse gelernt, damit umzu­gehen, etwa Zeichen zu verabreden für einen Moment der Ruhe. Dies sei eine Gemeinschaftsleistung, die jeden Einzelnen und den Klassenverbund insgesamt stärke.

Für Schüler mit Behinderung gibt es zudem spezielle Trainings, bei denen Lebenspraktisches vermittelt wird. Bei der täglichen Zubereitung des Frühstücks in der Schulküche wird etwa Feinmotorik trainiert. Darüber hinaus müssen sich an einer inklusiven Schule alle in sozialer und emotionaler Kompetenz und Rücksichtnahme üben. „Hier kommen Kinder mit völlig unterschiedlichem kulturellen oder materiellen Hintergrund zusammen, zusätzlich zu den Geflüchteten aus den Willkommensklassen“, sagt Koller-Hesses Kollegin Astrid Runte. Inklusion sei, alle im Blick zu haben – vom Kind mit Förderbedarf bis zu dem mit Hochbegabung.

Inklusion in den Schulen lege den Grundstein für den weiteren Lebensweg, meint auch Marcus Graubner, für die Integration im Berufsleben wie für die soziale Interaktion allgemein: „Wer gemeinsam lernt, kann auch gemeinsam den Alltag meistern.“ Gleiche Lebensverhältnisse und Lebensvielfalt sei das Ziel, nicht die Sonderstellung. Denn Leben mit Behinderung gehöre „zum normalen Leben dazu“. Gewollt seien keine „Behindertenparadiese“, sondern Teilhabe an der Gesellschaft.

Gelingt Inklusion in den Schulen trotz aller Hürden, profitiert die gesamte Gesellschaft davon. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass diejenigen, die diesen Kraftakt stemmen, mit allem Notwendigen ausgestattet werden.