Schimmel ist der größte Feind

ALTE SCHRIFTEN Restauratoren des Kompetenzzentrums Bestandserhaltung machen alte Bücher wieder lesbar. Als digitale Kopien werden sie im Netz publiziert. Eine hochpolitische Aufgabe, findet die Leiterin

Information allen zugänglich zu machen ist essenziell für eine Demokratie

VON LISA GOLDMANN

Das Buch ist völlig kaputt. „Paris. Gestern und heut“ steht in alter Schrift auf dem gräulichen Leinenumschlag. Der Einband ist komplett verbogen, als hätte ein sehr kräftiger Mensch seine Hand auf den Buchdeckel gelegt und einmal heftig gedreht. Alle Seiten sind aufgefächert. Wasserschaden.

Julia Bispinck blättert ohne Berührungsängste durchs Buch: „So schlimm ist der Schaden gar nicht.“ Man müsse nur die Seiten lösen, den Umschlag und jede einzelne Seite anfeuchten und wieder trocknen, schon sei die alte Form fast wiederhergestellt. Zum Glück ist das Buch nicht verschimmelt. Schimmel ist der größte Feind des Buches. In einer feuchten und staubigen Umgebung gedeiht er prächtig, frisst sich durchs Buch, bis es so zusammenklebt, dass man es nicht mehr aufschlagen kann. Verblockung nennen das Restauratoren wie Julia Bispinck.

Beim „Tag der Bestandserhaltung“ der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) am Montag ging es viel um Schimmel, Säurefraß und gebrochene Buchrücken. Es ging unterschwellig aber auch um die Frage, welche Bücher und Dokumente sich zu erhalten lohnen, wenn das Geld knapp ist. Wie man möglichst viele Informationen möglichst vielen Menschen zugänglich machen kann. Und ob die Digitalisierung die Konservierung von Büchern verdrängt.

Seit immer mehr Bibliotheken ihren Bestand einscannen und speichern, ist oft von Konkurrenz die Rede und der Angst, die neuen Digitalisierungsprojekte würden den Erhaltungs- und Restaurationsprojekten das sowieso knappe Geld wegnehmen. Eine Bibliothekarin erzählt, wie schwierig es sei zu entscheiden, ob sie das Geld für die Restaurierung eines Buches ausgeben solle oder ob die digitale Version vielleicht auch ausreiche.

In Berlin und Brandenburg versucht man, diese Konkurrenzsituation zu vermeiden. Im Kompetenzzentrum Bestandserhaltung in Berlin und Brandenburg (KBE), das bei der ZLB angesiedelt ist, wird nicht nur digitalisiert, sondern auch restauriert. „Sie können nie alle Informationen eines Buchs digital speichern“, sagt Annette Gerlach, eine der Leiterinnen des Kompetenzzentrums. Wie alt ist das Dokument, wie ist das Papier beschaffen, wie die Tinte – das lässt sich nur am Original bestimmen. „Und wir können ja jetzt noch nicht wissen, welche neuen Forschungsfragen sich in Zukunft ergeben, für die man das Dokument selbst braucht“, sagt Gerlach. Manchmal werde sie gefragt, wann denn die Bestandserhaltung endlich abgeschlossen sei, erzählt sie lachend, „aber das hört natürlich nie auf“.

Der Bestand erweitert sich ständig, Abertausende von Schriften warten darauf, lesbar gemacht zu werden. Restaurieren heißt auch, die Schriften dem Vergessen zu entreißen. Vor einigen Jahren zum Beispiel wurde in der ZLB eine Sammlung von Handschriften und Fotos gesichtet. Sie hatte einen Bombeneinschlag überstanden und lagerte lange viel zu feucht. Die Restaurierung machte das meiste wieder lesbar – darunter fand sich ein Brief des Philosophen Hegel.

Die Arbeit geht den Restauratoren nie aus, nur die Schäden verändern sich mit der Zeit. In Europa wurde Papier bis in die Mitte des 19. Jahrhundert aus Lumpen hergestellt, dann entdeckten die Papiermacher Holz als Rohstoff. Um aus Holz Papier zu machen, brauchen sie viel Säure, die bei langer Lagerung aber langsam das Papier zerstört. Es bekommt den bekannten Gelbstich und zerfällt langsam. Oft kann nur noch eine Massenentsäuerung helfen, inzwischen geht die maschinell. In einigen Jahren wird sich zeigen, wie sich der neue Digitaldruck auf die Haltbarkeit von Schriften auswirkt. Anders als beim herkömmlichen Druck verbindet sich die Tinte nicht mit dem Papier, sondern legt sich wie eine Schicht darauf.

Trotz alledem ist ausgerechnet das gute alte Buch noch immer eines der besten Medien, um Information zu bewahren. Bei richtiger Lagerung können Papiere über 1.000 Jahre überstehen, eine CD hält nur zehn, Mikrofilm immerhin über 500 Jahre. Auf die Übertragung von Schriften und Bildern auf Mikrofilm verzichtet man im Kompetenzzentrum aber inzwischen, es wird nur noch digitalisiert. Hier arbeiten Restauratoren und Digitalisierer zusammen. Ob ein Buch gescannt werden kann oder ob es dafür schon zu kaputt ist, entscheiden die Restauratoren. Auch wie das Buch behandelt werden muss, in welchem Winkel es geöffnet werden darf, bestimmen sie.

Zwar bedeutet das Scannen Stress fürs Buch, ist es aber erst einmal digitalisiert, hat es seine Ruhe: Den meisten Lesern reicht die digitale Version. Darum geht es auch beim Digitalisieren: Die Dokumente sollen einer großen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, im Internet. Für Annette Gerlach vom Kompetenzzentrum ist das eine hochpolitische Aufgabe. „Information allen zugänglich zu machen ist essenziell für eine Demokratie. Sonst ist es irgendwann eine Expertendiktatur“, sagt sie.

Bis jetzt hat das Zentrum für Bestandserhaltung über vier Millionen Seiten erfasst, jeden Tag kommen mehrere 1.000 dazu. Sie lagern auf riesigen Servern. Natürlich gibt es Sicherungskopien. Wie diese digitalisierten Schriften und Bilder auch auf Dauer erhalten bleiben, ist jetzt eine Frage der EDV.