„Die Leute sind eingeschüchtert“

Vor der künstlichen Intelligenz brauche sich keiner zu fürchten, sagt Hamburgs DGB-Vorsitzende Katja Karger. Die werde von technikbesoffenen Männern überschätzt. Das Problem sei, dass sich Menschen mit prekären Jobs nicht trauten, für ihre Rechte einzutreten

Wenn die Roboter übernehmen: Das Szenario muss uns keine Angst machen, sagt Gewerkschafterin Katja Karger Foto: imago/Ikon Images

Interview Gernot Knödler

taz: Frau Karger, wie kann es sein, dass Vollbeschäftigung herrscht und viele trotzdem mehrere Jobs machen müssen?

Katja Karger: Weil das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Es ist die Frage, wie man Vollbeschäftigung definiert. In den 80er-Jahren konnte man von Vollbeschäftigung sprechen. Das ist heute mitnichten so. Dass es Menschen gibt, die mehrere Jobs machen müssen, hat damit zu tun, dass ihre Jobs einfach nicht gut genug bezahlt sind, um davon leben zu können.

Viele Branchen klagen, sie fänden nicht genug Mitarbeiter – gerade erst die Hamburger Spediteure. Wie kann es sein, dass trotzdem so viele Leute schlechte Jobs haben?

Im Speditionsgewerbe diskutieren wir seit Jahren darüber, dass das automatisierte Fahren kommt. Und dann wundert man sich darüber, dass die Leute sagen: „Ich werd’lieber nicht LKW-Fahrer.“ Dazu kommt: Das, was die meisten Unternehmen wollen, ist der perfekt ausgebildete, fünf Sprachen sprechende Beschäftigte mit viel Erfahrung. Kaum ein Arbeitgeber ist bereit, in die Einarbeitung und Fortbildung neuer Mitarbeiter zu investieren – ganz abgesehen von den Arbeitsbedingungen und der Bezahlung. Die Unternehmen müssen sehr viel mehr als bisher darauf schauen: Was biete ich den Leuten?

Immerhin investiert ja die Bundesagentur für Arbeit einen Haufen Geld in die Weiterbildung.

Das ist ja auch gut und richtig so – sie muss aber unbedingt abschlussorientiert sein. Man muss sich genau anschauen, was in welche Art von Weiterbildung fließt. Wer ist die Zielgruppe? Zu Bedenken ist, dass nur ein Drittel der Erwerbslosen im Zuständigkeitsbereich der Agentur für Arbeit ist. Zwei Drittel sind im Hartz-IV-System. Das ist nicht dazu da, die Berufsqualifikation der Leute zu fördern.

Es hieß immer, die Globalisierung setze die Löhne unter Druck. Warum gilt das auch für ortsgebundene Jobs wie in der Pflege oder im Baugewerbe, die nicht ins Ausland verlagert werden können?

Selbst die klassischen Industriebetriebe stellen ja fest, dass sie eben nicht alles ins Ausland verlagern können. Viele kommen ja schon wieder zurück. Diese Option hatte der Dienstleistungsbereich ja nie.

Trotzdem scheint das nicht auf die Löhne durchzuschlagen …

Naja, Dienstleistung ist nicht gleich Dienstleistung. In den Banken und Versicherungen zum Beispiel wird gut bezahlt. Die gute Bezahlung hängt von mehreren Faktoren ab: Branchen, Anerkennung, Geschlecht. Dienstleistung ist etwas, das in diesem Lande häufig nicht wertgeschätzt wird – ganz gleich, ob wir unsere Eltern pflegen lassen oder unsere Kinder erziehen lassen. Das sind Arbeiten, die über Jahrzehnte von Frauen erledigt wurden und daher schlechter bezahlt werden. Hinzu kommt, dass gerade in diesem Sektor in den vergangenen Jahren eine erhebliche Privatisierungswelle zugeschlagen hat. Die Konkurrenz setzt die Arbeitslöhne zusätzlich unter Druck. .

Wäre es nicht Aufgabe der Gewerkschaften, dafür zu sorgen, dass sich das ändert, etwa durch Streiks?

Das tun wir, zum Beispiel bei der Pflege, wo wir zum Beispiel bei der Charité in Berlin die Mindestbesetzung von Stationen tarifvertraglich durchgesetzt haben. Aber das ändert natürlich nichts daran, dass wir bei der Finanzierung unserer Forderungen vom Gesundheitssystem abhängig sind. Wir können Tarifverhandlungen führen, wie wir wollen, und auch streiken: Wenn es auf der anderen Seite kein Geld gibt, weil entweder der Staat nicht einspringen will oder weil die Arbeitgeber ihre Renditeerwartungen auf 20 Prozent hochschrauben, sind auch unsere Möglichkeiten begrenzt.

Es gibt aber auch weniger regulierte Bereiche der Wirtschaft wie den Einzelhandel oder das Baugewerbe.

Im Baugewerbe wird durchaus gut bezahlt. Da gibt es einen entsprechenden Manteltarifvertrag, der Mindestlöhne vorsieht, die weit über dem gesetzlichen liegen.

Aber es ist schwierig, diesen durchzusetzen …

Es ist immer schwer, das durchzusetzen. Was glauben Sie, wie unser Geschäft funktioniert? Schauen Sie sich mal die taz an: Wie viele Ihrer Kollegen sind gewerkschaftlich organisiert? Daran hängt es doch. Wenn wir eine 80-prozentige Organisationsquote hätten, könnten wir natürlich auch viel mehr durchsetzen.

Warum erreichen Sie die nicht?

Die Leute sind durch ihre befristeten Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitverträge, durch diese Angstmacherei auf dem Arbeitsmarkt so eingeschüchtert, dass sie sich nicht trauen, sich für ihre Rechte einzusetzen. Da hat der Staat die Aufgabe, Leitplanken einzuziehen, wie er das ja mit dem Mindestlohn schon getan hat– Leitplanken, die klar machen: Wir wollen eine soziale Marktwirtschaft, wir wollen, dass alle in diesem Land von ihrer Hände Arbeit leben können.

Müssten sich die Gewerkschaften nicht stärker um Mitglieder bemühen?

Wir bemühen uns sehr um unsere Leute. Wenn das an manchen Stellen in den Medien nicht ankommt, dann ist das schade. Wir machen Vertrauensleutearbeit in den Betrieben, wir sind auf der Straße unterwegs. Wir sind ansprechbar für alle, die in irgendeiner Weise Fragen zu ihren Arbeitsrechten haben. Das Bemühen ist nicht das Thema, sondern eher, dass wir ein gesellschaftliches Klima haben, in dem mitschwingt: Wozu brauchen wir euch eigentlich noch? Das ist etwas, das überall kolportiert wird und den Menschen inzwischen im Kopf feststeckt. Das ist eine Jahrzehnte lang verbreitete neoliberale Botschaft, die darauf hinausgelaufen ist, die Leute zu entmündigen und vor allem zu vereinzeln. Dass sie sagen: Ich kann mich alleine um meine Angelegenheiten am allerbesten kümmern. Dagegen gehen wir an, weil wir finden: Das ist der komplett falsche Weg.

:

Katja Karger, 48, steht seit 2013 als erste Frau an der Spitze des DGB Hamburg. 2001 hat sie den ersten Betriebsrat in der „New Economy“ gegründet.

Es gibt Branchen wie etwa die IT, wo es quasi zum guten Ton gehört, als Individuum aufzutreten.

Ja und nein. Ich habe jahrelang in einer solchen Branche gearbeitet und kenne deshalb die Glaubensbekenntnisse, die dazu gehören. Aber auch damals war schon klar, dass man nur gemeinsam und mit einem Betriebsrat dahinter etwas erreichen kann. Die Leute merken spätestens ab Mitte 20, ab dem Moment, ab dem sie mal ein Privatleben haben oder eine Familie gründen wollen, dass das unter ihren jeweiligen Bedingungen so nicht geht und dass sie nichts geschenkt bekommen. Mit einer gewissen Erfahrung kommen irgendwann alle Beschäftigten darauf, dass es alleine nicht funktioniert. Dann ist die Frage, inwieweit wir es schaffen, den Leuten Angebote zu machen. Wir hatten als Gewerkschaften in den letzten Jahren ja auch große Erfolge. Der ganz schlimme Mitgliederschwund ist gestoppt. Sicher verlieren wir durch die Altersentwicklung an manchen Stellen Mitglieder, aber wir haben unglaublich viele Zugewinne bei den jungen Leuten.

Es ist immer wieder beklagt worden, dass der Arbeitsmarkt durch den Zustrom von Beschäftigte aus Osteuropa unter Druck kommt.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird häufig dort genutzt, wo die meisten Menschen nicht mehr arbeiten wollen würden. Das Problem dabei ist, dass die Kollegen, die vornehmlich aus dem Osten kommen, unglaublich ausgebeutet werden und wir es in Europa bisher nicht schaffen, Regelungen herzustellen, dass die Menschen nicht wie Sklaven verkauft werden an irgendwelche Schlachtereien oder Baustellen. Aber das ist nicht der Teil, der unsere Arbeitsbereiche tatsächlich unter Druck setzt, weil das meistens Helfertätigkeiten sind. Die Beschäftigung in Hamburg zum Beispiel ist extrem qualifiziert. Wir haben nur noch rund sieben Prozent Helfertätigkeiten in dieser Stadt. Unsere eigene Bevölkerung arbeitet qualifiziert, deshalb ist das für die kein Thema.

Was den Leuten bei uns Angst macht, ist die künstliche Intelligenz.

Angst macht den Menschen vieles. Wir haben auf der einen Seite einen Diskurs, der diese Digitalisierung und Automatisierung unglaublich hypt; Das ist ein typisch männlicher, technikzentrierter Blick, der in den Vordergrund stellt, was da alles Tolles kommt – allein: Wir wissen es nicht! Wir haben seit 40 Jahren die Diskussion darüber, dass Computer eingeführt werden und uns die Arbeit ausgeht. 40 Jahre später können wir jetzt mal feststellen, dass das nicht der Fall ist.

Aber jetzt handelt es sich um eine neue Qualität in der technischen Entwicklung.

Dazu gibt es so viele Ergebnisse, wie es Studien gibt. Da ist eher die Frage: Wer setzt sich mit seinem Geschrei durch? Das ist dann aber nicht unbedingt richtig. Wir Gewerkschaften wissen ja, was in den Betrieben los ist und wie weit die schon längst mit allen möglichen Varianten von Digitalisierung und Automatisierung arbeiten. Richtig ist, dass sich jeder einzelne Beruf verändert. Für uns ist deshalb die Logik, die Leute nicht in Panik zu versetzen, sondern ihnen zu sagen: Für diese Veränderungen kann man sich weiterbilden. Da kommen wir mit, und da sind wir auch schon in den vergangenen 100 Jahren mitgekommen. Andernfalls passiert genau das, worüber wir schon gesprochen haben: Es will keiner mehr LKW-Fahrer werden.