Sargnagel für Sargsjan: Abtritt in Armenien

Armeniens Ministerpräsident, der sich per Wechsel vom Staats- zum Regierungschef seine Machtfülle sichern wollte, wird von Massenprotesten zum Rücktritt gezwungen

Mit Armeniens Flagge gegen Armeniens Machthaber: Demonstranten füllen Jerewans Straßen und Plätzte, Sonntag Foto: Aram Kirakosyan/ap

Von Barbara Oertel

Freudentänze und Jubel unter riesigen rot-blau-orangen Flaggen; Menschen, die mit Rufen wie „Wir haben gesiegt!“ und „Freiheit und Gerechtigkeit für unser Land!“ ihre Arme triumphierend in die Höhe recken und durch die Straßen der armenischen Hauptstadt Jerewan ziehen: Das waren am Montag die Reaktionen auf die Rücktrittsankündigung des kontroversen Regierungschefs Sersch Sargsjan nach nur sechs Tagen im Amt.

Seit anderthalb Wochen gehen täglich Tausende Armenier in Jerewan und anderen Städten der Kaukasusrepublik auf die Straße. Grund für den Wutausbruch: die Rochade an der Staatsspitze. Sersch Sargsjan war zehn Jahre lang Armeniens Präsident. Er räumte am 9. April seinen Posten, um Ministerpräsident zu werden, und wurde am 17. April vom Parlament in sein neues Amt gewählt.

Damit wollte er seine Macht wahren. Denn in einem umstrittenen Referendum im Jahr 2015 hatten die Mehrheit der Wähler Verfassungsänderungen zugestimmt, die viele Vollmachten vom Präsidenten auf den Ministerpräsidenten übertragen. Noch 2014 hatte Sargsjan behauptet, er werde nicht das Amt des Ministerpräsidenten anstreben, sollte Armenien diesen Wechsel vom Präsidialsystem zum parlamentarischen Regierungssystem vollziehen. Seine Kritiker warfen ihm jetzt vor, Verrat begangen zu haben.

Die Anzahl der Demonstranten, die Straßen und Gebäude in Jerewan blockierten, war in den vergangenen Tagen immer weiter angewachsen. Am Sonntag hatten sich allein auf dem zentralen Republikplatz rund 70.000 Menschen versammelt – die größte Kundgebung Armeniens seit der Unabhängigkeit 1991. Rund 280 Personen wurden unter dem Vorwurf, die öffentliche Ordnung zu gefährden, festgenommen – darunter Nikol Paschinian, ein Anführer der Protestbewegung. Kurz vor seiner Festnahme hatte sich Paschinian mit Sargsjan getroffen, der das Gespräch jedoch nach wenigen Minuten mit dem Hinweis abbrach, er lasse sich nicht erpressen.

Die Festnahme Paschinians, der als Parlamentsabgeordneter Immunität genießt, hätte aber einer vorherigen Entscheidung des Parlaments bedurft. Am Montag wurde Paschinian wieder auf freien Fuß gesetzt und kündigte neue Demonstrationen an. Zuvor waren am Morgen erstmals Tausende Studenten auf die Straßen gegangen. Auch eine Gruppe von Soldaten hatte sich den Protesten angeschlossen. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie Uniformierte im Laufschritt eine Kaserne verlassen und dann einen Demonstrationszug anführen. Das Verteidigungsministerium bestätigte daraufhin, dass es sich um Soldaten handele, und kündigte an, dass sie bestraft würden. Wenige Stunden später erklärte Sargsjan seinen Rücktritt.

Für den Abend und die Nacht wurden ausgedehnte Siegesfeiern der Protestbewegung erwartet. „Ich bin überrascht, dass wir das geschafft haben. Jetzt geht es darum, das ganze oligarchische System zu zerbrechen, dessen Kopf Sargsjan war“, sagt ein armenischer Journalist. „Die Chancen dafür stehen gut.“