Die nasse Botschaft

VOLKSTRAUERTAG Am nächsten Sonntag darf geweint werden – aber nicht von jedem gleich viel

Das Gemisch: Tränen setzen sich aus Wasser, Elektrolyten und etwa achtzig verschiedenen Proteinen zusammen. Produziert wird das Gemisch von Tränendrüsen in den beiden oberen Augenhöhlen.

Die drei Tränentypen: Basale Tränen weinen wir ständig, um unsere Hornhaut mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Reflektorische Tränen nur als Reaktion auf äußere Reize: wenn es kalt wird, wir uns am Auge verletzen oder beim Zwiebelschneiden. Diese Tränen vergießen auch Tiere – emotionale Tränen hingegen ausschließlich Menschen.

Die Theorien: Über den Grund für das emotionale Weinen gibt es sieben verschiedene Theorien: Prominenteste ist der „Katharsis-Effekt“ von Freud. Er glaubte an eine psychische Reinigung durch Tränen, daher der Name Katharsis, griechisch für Reinigung. Aktuelle Studien aber zeigen, dass sich Menschen nach dem Weinen nicht unbedingt besser fühlen. Die neueste Theorie: Weinen sei ein rein kommunikatives Mittel, gedacht zum Rekrutieren von Hilfe,Trost oder um aggressive Gesprächspartner auszubremsen. Dagegen spricht, dass wir statistisch am meisten alleine weinen. So bleibt der biologische Grund für all die Tränen weiter im Dunkeln.

VON MARTIN REICHERT

Es ist nicht schön, wenn man als 14-jähriger Junge eine Brille verschrieben bekommt – Brilletragen ist aus herkömmlicher Sicht unmännlich. Noch unmännlicher ist nur, anlässlich der Verschreibung einer Sehhilfe in Tränen der Verzweiflung auszubrechen, was den ausnahmsweise beim Arztbesuch begleitenden Vater damals zu der harschen, eigentlich ängstlichen und von Überforderung getriebenen Ansage „Hör sofort auf zu weinen“ trieb.

Mütter machen das nicht so grob. Sie erziehen indirekt mit den Mitteln der Belobigung und Anerkennung: „Du bist ja jetzt schon ein großer Junge und tapfer.“ Akklamation statt Ansage.

Und nein, ein Indianer kennt keinen Schmerz. Irgendwann, im Laufe der Pubertät, kommen einem dann die Tränen abhanden. Jahre später wundert man sich dann nicht mehr, wenn in aktuellen Studien, etwa von „Augenärzten der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft in München“, vermeldet wird, dass Frauen viermal so oft weinen wie Männer. Und dann auch erstaunt darüber sind, dass Jungen und Mädchen bis zum 13. Lebensjahr ungefähr gleich viel weinen. Der Augenarzt seinerzeit machte jedenfalls keinen besonders tröstenden Eindruck.

Als Mann lernt man, die Tränenkanäle mit Schleusen zu versehen, die allenfalls kontrolliert geöffnet werden dürfen, wenn die eigene Mutter beerdigt wird oder man mit einem großen Zapfenstreich der Bundeswehr aus einem Amt entlassen wird, bei dem man viel Stress hatte.

Akklamation statt strenger Ansage: „Du bist ja jetzt schon ein ganz großer Junge und tapfer“

Das Sozialprestige Mann ist ein zerbrechliches Gut. Es muss jeden Tag aufs Neue untermauert werden, da es jederzeit verlustig gehen kann – Mann oder Memme. Ein steter Tränenfluss würde es unterspülen. Hat man es verloren, zum Beispiel nach einem Coming-out als Homosexueller („Memme“, „Schwesterwelle“), kann man sich das Weinen im Prinzip wieder aneignen, ganz unverschämt im eigentlichen Sinne des Wortes. Der Verlust des Sozialprestiges kann so zu einer Entlastung im Sinne des „kathartischen Weinens“ werden. Emotionen müssen nicht mehr zwingend mit Zigaretten oder (Auto-)Aggressionen gedeckelt werden.

Doch in einem Punkt kommt man auch so nicht weiter, gleich ob homo oder hetero: Man erreicht nichts mit Tränen. Wenn Babys weinen, bekommen sie etwas zu essen. Und wenn Frauen viermal häufiger weinen als Männer, dazu auch noch laut Münchner Studie „länger, dramatischer und herzzerreißender“, dann auch, weil es ihnen etwas nützt. Sie signalisieren „Überforderung“ oder dass sie „Probleme haben, einen Konflikt zu lösen“ – und erhalten dann ja meist auch Hilfe.

Würde man als Mann versuchen, Tränen einzusetzen, um sich durchzusetzen, dann wäre das gesellschaftlich zum Scheitern verurteilt: Die Empfänger der nassen Botschaft wären überfordert, gleich ob Mann oder Frau. Eine Möglichkeit, Männer und Frauen auf gleiche Tränenfüllhöhe zu bekommen, wäre also, Männern zu erlauben, sich mit Hilfe eines kraftvollen Drucks auf die Tränendrüse durchzusetzen. Die andere, Frauen diese Taktik zu untersagen – in letzterem Fall bliebe dann das Männern und Frauen gemeinsame Reservoir jener Tränen, die man einsam für sich selbst weint. Im stillen Kämmerlein.