Ungarn und Viktor Orbáns Partei: Ein Land, das abrutscht

Der Fidesz-Partei ist es gelungen, das Land in paranoide Hysterie vor Migranten und der EU zu versetzen. Eine Reise in ein verängstigtes Land.

Viktor Orbán, neben ihm eine Ungarnflagge mit Wappen

Schürt Ängste in Ungarn: Viktor Orbán Foto: reuters

SZÉKESFEHÉRVÁR taz | Haushoch die Nationalfahne, auf dem Podest ein Flügel. Ein Bariton singt ein traurig-patriotisches Lied und reckt die Hände gen Himmel. Sieht aus wie im neunzehnten Jahrhundert. Der örtliche Kandidat der Fidesz-Partei, graumeliert und gütig, sieht aus wie ein Oberstudienrat. Ist auch einer. Über dem Marktplatz von Székesfehérvár kreist die Drohne von Echo-TV, das Wahlvolk schwenkt die verteilten Fahnen, der Bariton singt die Nationalhymne.

Ich hatte einen feurigen Demagogen erwartet, aber der Mann im dunklen Anzug liest seine Rede ab wie die Bilanz eines mittelgroßen Familienbetriebs. Verbeugt sich nach jedem Absatz vor dem „lieben Volk von Székesfehérvár“, aber seine Rede ist ungeheuerlich: Hier, wo das christliche Königreich Ungarn geboren wurde, stehen wir zusammen; wir haben Ungarn wieder einen würdigen Platz unter den Völkern gegeben; wir haben die Schuldknechtschaft beseitigt, den Multis genommen und den Familien gegeben; wir beweisen, dass das Zeitalter der Nationen nicht beendet ist, aber Europas Führer im Bunde mit einen milliardenschweren Spekulanten wollen uns das Land wegnehmen und mit Migranten überfluten.

Zweitausend Agenten von George Soros in Ungarn, zehntausend Migranten in Ungarn, noch in diesem Jahr sollen sie kommen … Ihr habt, liebes Volk von Székesfehérvár, die Wahl: Euer Ungarn oder das von Soros. Der Bariton singt noch ein Lied, der Applaus hält sich in Grenzen, nach einer halben Stunde ist alles abgebaut, im Echo-TV am Abend sind das Kunstleder, die ausgetretenen Schuhe, die müden Gesichter nicht zu sehen.

Die smarten Mittelständler in der Bar eine Ecke weiter haben das alles gar nicht mitgekriegt, sie schütteln den Kopf über das Soros-Märchen. Aber es regt sie auch nicht übermäßig auf. Die Psychologin, die ich abends in Budapest besuche, begrüßt mich mit den Worten: Willkommen im Totalitarismus. Eine Malerin berichtet entsetzt: Die Roma in dem Dorf, in dem sie Sozialarbeit leistet, wollen Fidesz wählen: „weil Orbán uns vor Migranten schützt“. In den Wohnküchen kursieren Gerüchte, dass im Hinterland 20 Euro auf die Hand gezahlt werden, wenn man seinen ausgefüllten Wahlschein mit dem Handy fotografiert und vorzeigt. Die Filmemacherin kommt panisch nach Hause: Man habe ihr gesagt, sie könne den Wahlzettel ohne Umschlag in die Urne stecken, ob da nicht was dahinterstecke …

Den Mythos des Opfer-Volkes beschwören

Es ist Fidesz gelungen, das Land in paranoide Hysterie zu versetzen. Orbán verspricht Sicherheit vor Migranten und Soros – das war die einzige Botschaft. Aber nur mit Ideologie kann man ein Volk nicht betäuben, wusste schon Goebbels. Eszter, in deren Wohnung ich für ein paar Tage bin, freut sich über den Sieg von Fidesz. Seit einigen Jahren gebe es mehr Kindergeld und großzügige Baukostenzuschüsse für junge Familien. Ja, da sei die Korruption, und das mit Soros sei wohl übertrieben, sagt Eszter, die ausgebildete Juristin. Als Christin könne sie das nicht gut finden, aber: die Muslime; die Nachrichten aus den multikulturellen Vierteln Schwedens …

Nur mit sozialen Leistungen, die mit 27 Prozent Mehrwertsteuer finanziert werden, kann man seine Macht nicht auf Dauer absichern. Man muss die Angst dauerhaft installieren. Den Mythos des auserwählten Opfer-Volkes beschwören. Neunzig Prozent der Medien gleichschalten. Die Schulbuchinhalte verstaatlichen. Vor den Wahlen einen Rabatt auf die Stromrechnung geben. Vor allem aber die eigenen Leute mit Privilegien, Staatsaufträgen, Stiftungen erpressbar machen.

Wer Soros zum Übermenschen stilisiert, braucht keinen offiziellen Antisemitismus. Einer aus dem regierungsfinanzierten Thinktank kommentiert: Machiavelli hätte seine Freude an Orbán, aber das empöre doch nur die Intellektuellen. Die Chefideologin, die in ihren Schriften über ein „tieferes Europa“ schwadroniert und die Wiedergeburt des Kontinents aus dem Geist des östlich-autoritären Antiliberalismus gut auf dem Weg sieht, spuckt voller Verachtung auf einen kraftlos gewordenen „Westen“, der seine Werte nicht ernst nimmt.

Da rutscht ein Land ab, zerstört ein Clan Stück für Stück die Institutionen; unsere Seehofers gratulieren zum großartigen Sieg, und für unsere Zeitungen ist das nur interessant ein paar Wochen vor und ein paar Tage nach der Wahl. Denn es gibt hier keine uniformierten Horden, sondern Personalpolitik statt Radikalenerlass; statt Zensur eine zersplitterte Öffentlichkeit, statt offenen Raubs an Staatseigentum überteuerte Rechnungen für öffentliche Aufträge – wie heißt ein solches System? Kleptokratie? „Führerdemokratie“, wie es der Publizist Paul Lendvai in seinem Buch über „Orbáns Ungarn“ nennt, oder „Mafia-Staat“, nach der Lesart des ehemaligen ungarischen Kulturministers und Soziologen Bálint Magyar?

Ich will schon aufatmen, dann lese ich weiter

Am Morgen nach der Wahl sind die Budapester, die ich kenne, tief deprimiert, erwarten fatalistisch neue Gesetze gegen Nichtregierungsorganisationen, glauben nicht, dass die EU helfen wird – aus politischem Opportunismus: wegen der 22 ungarischen Abgeordneten in der EVP, aus wirtschaftlichem Opportunismus: Daimler ist der zweitgrößte Arbeitgeber im Land, erhöht sogar gelegentlich die Niedriglöhne. Appeasement und gleichgültige Toleranz.

„It can’t happen here“ hieß das Buch, das Upton Sinclair 1935 schrieb; ich neige nicht zur Panik, aber vielleicht sollte ich auch diese Haltung mal überprüfen. Vor der nächsten großen Krise.

Auf dem Weg zum Flughafen piept mein Telefon. Eszter schickt mir eine SMS hinterher: „Ich vergaß, dir zu sagen, dass in unserem Land seit Jahrhunderten die Situation des Zigeunervolks ungelöst ist. Wir sollten als Erstes diesen Teil unserer Gesellschaft bilden und ihnen helfen, denn sonst wird das schon bald ein großes Problem …“ Ich will schon aufatmen, sie ist doch keine Rassistin; dann lese ich weiter: „… denn sie gebären so viele Kinder, und wenn das so weitergeht, braucht es nicht viel, und sie sind in der Mehrheit.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.