Debatte Politiktheater Hartz IV und Pflege: Viel heiße Luft

Die Große Koalition steigert sich bei den Themen Hartz IV und Pflege von einer Empörungswelle in die nächste. Den Betroffenen hilft das nicht.

Drei Männer mit orangeroten Westen räumen Schneeberge ab

Hitzige Debatten helfen den zum Schneeschippen verdonnerten Arbeitslosen nicht Foto: dpa

Ist das jetzt der neue Politikstil? Man erzeugt viel „Traffic“, also Klicks, und Kommentare in den Medien. Jemand gibt den „Bad Guy“, Schlagworte werden immer neu gemixt. Bei den WählerInnen schafft das ein Reaktionsmuster aus Personalisieren, Moralisieren, Empören, Abregen, Vertagen. Politik ist auch Entertainment.

Die Diskussionen in der Großen Koalition über Hartz IV und die Pflege laufen derzeit nach diesem Muster. Es gibt viel Lärm, doch die rituelle Empörung blockiert ernsthafte Debatten über diese komplexen Themen, weil sie nur auf der Gefühls­ebene spielt. Diese Blockade ist nicht sichtbar, im Gegenteil: Die mediale Aufregung simuliert Bewegung, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Der tatsächliche Stillstand ist darauf zurückzuführen, dass es politisch riskant ist, Verteilungsfragen in der Sozialpolitik anzugehen, denn die Mittelschicht ist hier wechselhaft, gespalten – und anfällig für Hetze.

Mit dem Aufregerstil geht die Große Koalition eine beklemmende Symbiose mit den Mechanismen der Onlinemedien von Twitter und Facebook ein: Man kann sich sicher sein, dass die Empörung nicht von langer Dauer ist, weil die nächste Empörung schon erwartet wird, ja geradezu notwendig ist, um den Betrieb am Laufen zu halten. So funktioniert Als-ob-Politik.

CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn spielt den Bad Guy, der zu allem was zu sagen hat, was die Leute bewegt. Seine idiotische Aussage, Hartz IV bedeute keine wirkliche Armut, bot eine Vorlage für SPD-PolitikerInnen, die anfingen, über die Abschaffung von Hartz-IV zu diskutieren, das die Sozialdemokraten ja mal selbst eingeführt haben. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), forderte ein „solidarisches Grundeinkommen“ für Hartz-IV-Empfänger, meinte damit aber neue Beschäftigungsmaßnahmen für Arbeitslose.

So bindet man politische Energie: personalisieren, Begriffe verunklaren, von grundsätzlichen Reformen reden, von denen kein Mensch weiß, woher sie kommen sollen

Das Wort „Grundeinkommen“ bot wiederum Gelegenheit, erneut ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ statt Hartz IV zu fordern. Wobei Hartz IV im Amtsdeutsch ja „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ heißt. Darauf weist Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hin, der lieber nicht von „Hartz IV“ spricht. In den Medien werden Umfrageergebnisse nachgeliefert, laut denen eine Mehrheit der Bevölkerung Hartz IV „grundsätzlich ändern“ möchte. So bindet man politische Energie: personalisieren, Begriffe verunklaren, von grundsätzlichen Reformen reden, von denen kein Mensch weiß, woher sie kommen sollen.

Schon kleine Änderungen könnten helfen

Stattdessen wäre den Millionen von Hartz-IV-Empfängern mit kleinen Änderungen sehr geholfen. Zum Beispiel, indem man „einmalige Leistungen“ für Hausgerätereparaturen wieder einführt., indem man ein Nahverkehrsmonatsticket finanziert, Brillen problemlos bezahlt. Aber über solche schon früher geforderten Änderungen gäbe es Verteilungsdiskussionen. Diese werden nicht einfacher dadurch, dass immer mehr Flüchtlinge unter den Hartz-IV-Beziehern sind. Da ist es leichter, um die sozialen Fragen ein bisschen Kunstnebel zu erzeugen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Mehr Stellen in der Pflege hat Gesundheitsminister Spahn gerade wieder im Zeitungsinterview gefordert. Deutlich verbesserte Personalschlüssel und höhere Entgelte in den Heimen würden mehr Geld aus den Pflegekassen erfordern und damit höhere Beiträge. Das aber will die Große Ko­ali­tion nicht, schließlich hat man den ArbeitnehmerInnen vollmundig Entlastung von den Abgaben versprochen. Also wird auch in der Pflege herumgeredet. 38.000 zusätzliche Stellen in der Pflege würden übrigens etwa 0,1 Prozent mehr vom Bruttoeinkommen als Pflegeversicherungsbeitrag kosten.

Vielleicht wollen viele WählerInnen die Wahrheit gar nicht so genau wissen. Das zumindest glaubt die Regierung. Es erscheint sicherer, auf Vereinfachungen, Personalisierungen und die Kurzlebigkeit im medialen Traffic zu setzen. Die Wirklichkeit ist unsexy. Vielleicht macht sie auch ein bisschen Angst.

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Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

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