Sibirische Wut auf das System Putin

Im Osten Russlands sind 64 Menschen bei dem verheerenden Brand in einem Einkaufs-zentrum gestorben, darunter 41 Kinder und Jugendliche. Viele Bürger in Kemerowo fordern nun Antworten

Ort der Trauer: Am Dienstag nach dem Unglück ist Staatschef Wladimir Putin in Kemerowo. Foto: Alexei Druzhinin/Sputnik/Kremlin/ap

Aus Kemerowo Klaus-Helge Donath

Ein Stofftiger reckt den Kopf in den verhangenen Himmel. Daneben tanzt eine gertenschlanke Ballerina, der die Schneeflocken nichts anhaben können. Aus den Ästen des einzigen Baumes am Ort schaut Mischa der Bär auf die Trauernden hinab, die sich auch am neunten Tag nach der Brandkatastrophe hier, unmittelbar am Unglücksort im Herzen der sibirischen Stadt Kemerowo, einfinden. Familien mit Kindern halten inne, Eltern legen Blumen nieder, Kinder opfern ihre Kuscheltiere. Sie türmen sich neben dem Baum zu einem Berg auf. Viele der Anwesenden werden von Tränen überwältigt. Studenten verteilen Taschentücher.

Nur wenige Meter entfernt, im Einkaufs- und Vergnügungszentrum Simnjaja Wischnja, hat sich die Tragödie abgespielt. Hier starben am 25. März 64 Menschen, darunter 41 Kinder und Jugendliche. Wie es genau zur der Katastrophe kam, ist auch heute nicht geklärt. Sicher ist nur: Das Feuer bricht im vierten Stock in einer Spielecke für Kinder aus und breitet sich rasch aus. Und: Für viele Kinobesucher wird das Einkaufszentrum an jenem Sonntag Nachmittag zur tödlichen Falle. Der Feueralarm ist defekt, die Türen blockiert.

Auch wenn die Feuerwehr noch viele Personen retten kann, fühlen sich viele Russen unwillkürlich an den Brand erinnert, der sich 2009 im Ural ereignete. Damals verbrannten mehr als 160 Personen im Klub Chromaja Utka in der Stadt Perm. In Kemerowo fürchten viele, dass die Opferzahl noch steigt: Laut Angehörigen seien 85 Menschen umgekommen.

Von der Seite des Trauerorts ist dem Bau die Katastrophe nicht anzusehen. Weder Rauch- noch Rußspuren sind auf den gelbbeigen Platten zu erkennen, die früher mal eine Backwarenfabrik kleidete. Mieter räumen aus, was in den Läden noch zu retten ist. Der Bau wird abgerissen. An seiner Stelle soll ein Wald mit 64 Bäumen entstehen. Ein Baum für jedes Opfer. Dafür haben die Angehörigen jedoch noch keinen Sinn. Sie sind auf der Suche nach Antworten.

Doch nach dem Brand erhalten sie zunächst gar keine Antworten. Der Gouverneur Aman Tulejew, der den Kusbass, die größte Kohleregion Sibiriens, seit einem Vierteljahrhundert verwaltet, lässt sich weder am Unglücksort blicken, noch versorgt er die Angehörigen mit Informationen. Das verärgert Angehörige wie Igor Wostrikow, der bei dem Brand drei Töchter, die Ehefrau und eine Schwester verloren hat. Im Netz ruft er zur Demonstration auf.

Zwei Tage nach dem Brand versammelten sich auf seinen Aufruf fünftausend Demonstranten vor dem Gouverneurssitz. Spontan und ohne Erlaubnis, was in Putins Russland fast einem versuchten Staatsstreich gleichkommt. Fast zehn Stunden standen die Menschen vor der Verwaltung des abgetauchten Gouverneurs. Wostrikow, das ist auf TV-Aufnahmen von jenem Tag zu sehen, steht inmitten der Menschenmenge mit einem Mikrofon in der Hand und klagt an. Seine Versuche, die Kinder zu retten, seien von den Sicherheitskräften nicht unterstützt worden. In der Masse raunt es.

Wostrikow gerät in Fahrt, er forderte Rücktritte, auch Putins. Der russische Präsident ist zwar am selben Tag in Kemerowo und legt Blumen am Unglücksort nieder, mit den Demonstranten will sich Putin aber offenbar nicht abgeben. Er verspricht lieber im Fernsehen, die Schuldigen dingfest zu machen, und besucht ein Krankenhaus.

UnglücksortDie Brandkatastrophe in Kemerowo ereignet sich am 25. März 2018 um 16 Uhr Ortszeit im Einkaufs- und Erlebniszentrum Simnjaja Wischnja (deutsch: Winterkirsche). Offiziellen Angaben zufolge kommen dabei mindestens 64 Menschen ums Leben, davon 41 Kinder. Das Feuer bricht im vierten Stock in einer Spielecke für Kinder aus, die sich in der Nähe eines Kinos mit drei Sälen befindet. Wie es zu dem Unglück kam, ist noch nicht abschließend geklärt. Ermittler gehen jedoch davon aus, dass das Feuer durch einen Kabelbrand verursacht wurde. Die Flammen erfassen rasch eine Fläche von rund 1.600 Quadratmetern.

Pannen und Ermittlungen

In den Kinosälen und den Sälen mit Spielautomaten gibt es keine automatischen Feuerlöschanlagen und keine Notausgänge. Bei Ausbruch des Brandes wird kein Feueralarm ausgelöst – die Anlage ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Tagen defekt. Zunächst wird das Ausmaß des Brandes nicht erkannt und elementare Verhaltensregeln werden verletzt. Als Besucher ein Kino verlassen wollen, sind die Türen blockiert. Die zuständigen Behörden ermitteln derzeit wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung, Missachtung von Brandschutzvorschriften und des Anbietens unsicherer Dienstleistungen. (bo)

Dem Kremlchef kommt die Katastrophe in Kemerowo höchst ungelegen. Knapp eine Woche vor dem Brand hatte Putin einen überwältigenden Sieg bei der Präsidentschaftswahl mit 77 Prozent gefeiert. Im Staatsfernsehen ist von der Einheit zwischen Volk und Führung die Rede. Nun müssten sie von rosigen Gefühlen auf heikle Fakten umstellen. Hatte der Präsident den Wählern nicht Stabilität und Sicherheit versprochen? Und nun das.

Auch Gouverneur Aman Tulejew stellte sich nicht den Demonstranten. Deren Anführer, der Witwer Wostrikow, nannte er einen „Krawallmacher“. Zur Großdemo schickte vor seinem Amtssitz schickte er seinen Vizegouverneur Sergei Siwiljow vor. Tulejew schien zu hoffen, den Sturm noch unbeschadet überstehen zu können. Doch unumstritten ist er in Kemerowo nicht. Selbst von Anhängern wird ihm nachgesagt, im Kusbass wie ein Bey im Osmanischen Reich zu gebieten.

Was sich derzeit in der sibirischen Stadt abspielt, hat für Russlandkenner System: Selten hat die Führung in Moskau oder in der entsprechenden Provinz Verantwortung für das übernommen, was im Land schieflief. Der gegenwärtigen Führung fällt das besonders schwer. Sie konnten die Mängel vor heimischem Publikum bislang immer mit propagandistischen Tricks verbergen. Als Gerüchte aufkamen, offiziell seien mehrere Hundert Opfer von den Verantwortlichen verschwiegen worden, und die Menge Aufklärung verlangte, waren Moskaus Gesandte nicht zur Stelle. Vizegouverneur Sergei Siwiljow fiel es schwer, die Menge davon zu überzeugen, dass dies nicht der Wahrheit entspreche.

Die Gerüchte jedoch sind nun in der Welt: „Sie haben die Leute mit Geld ruhiggestellt“, glaubt etwa Gleb Alschewitsch von der demokratischen Partei Jabloko. Der Historiker ist einer der wenigen sichtbaren Oppositionellen im Kusbass. Seit er 17 Jahre alt ist, mache er Politik, sagt der stämmige Mann im dunklen Anorak. Nach dem Studium in Moskau kehrte er in die Heimat zurück. Er ist Oppositioneller und doch eine Lokalgröße. Der 34-Jährige erzählt, wie schwer es ist, sich in feindlicher Umgebung zu behaupten. Gleichwohl, er scheint es auch zu genießen, die Rolle des Außenseiters zu bekleiden, zu den Aufrichtigen zu gehören. „71 000 Euro umgerechnet erhalten Hinterbliebene für jedes Opfer zusätzlich zu den Kosten der Bestattung“, sagt er. Und meint damit: Die Verantwortlichen kaufen damit die schärfsten Kritiker.

Auffällig ist: Wostrikow schlug wenige Tage nach der Demonstration schon sanftere Töne an. Weder Gouverneur Tulejew noch Präsident Putin träfe eine Schuld, sagte er plötzlich. Er wolle sich demnächst mit der Reform des Katastrophenministeriums befassen, das beim Brand überfordert gewesen sei. War es Druck oder Geld? Hat man ihn ruhiggestellt? War es Einsicht, dass er gegen den Staat ohnehin nichts ausrichten kann? War es das Leid, mit dem er fertig werden muss?

„Der Protest war Ausdruck der Verzweiflung, eine emotionale Erschütterung“, sagt der Oppositionelle Gleb Alschewitsch. Auch er war bei der Demo, mischte sich aber nicht unter die Masse, sondern beobachtete die aufgebrachten Menschen von der Seite. Eigentlich hätte der Kusbass Erfahrungen mit dem Tod, „wir sind an ihn gewöhnt. Auf eine Million Tonnen Kohleförderung rechnen wir mit einem Opfer unter den „Schachtiori“ – den Grubenarbeitern“. Größere Unfälle passieren alle paar Jahre, mehr als 90 Tote gab es zuletzt vor acht Jahren beim Grubenunglück im Schacht Raspadskaja. Der Unmut der Angehörigen führte zum Widerstand auch über Tage. Doch Spezialeinheiten der Polizei brachen den Protest. Es kehrte wieder Ruhe ein.

Der Bau wird abgerissen. An seiner Stelle soll ein Wald mit 64 Bäumen entstehen. Ein Baum für jedes Opfer. Dafür haben die Angehörigen noch keinen Sinn. Sie suchen nach Antworten

Wird das dieses Mal anders sein? Vermag der Brand von Kemorowo das politische System zu verändern? Alschewitsch bleibt skeptisch. „Es sind alles Putins Wähler, die auf die Straße gingen. Daran wird sich auch nach dem Unglück nichts ändern“. Es sei zwar schmerzhaft, bislang kehrte der alte Trott jedoch schnell zurück. „Die Menschen bei uns haben ein kurzes Gedächtnis“.

Kemerowo ist eine harte Stadt. Schon das harsche kontinentale Klima verlangt den Einwohnern Durchhaltevermögen ab. Der Menschenschlag sei gröber als in anderen Regionen Sibiriens. „Im Kusbass gibt es entweder Schachtiori oder wie im Norden Strafgefangene“, so Gleb Alschewitsch. Beide gehören zu den überzeugten Putin-Wählern wie die letzte Wahl zeigte. In Kemerowo werde nicht lange gefackelt. Dialogkultur sei noch nicht recht entwickelt, schmunzelt Gleb Alschewitsch.

Gleichwohl, auch Intellektuelle und Schöngeister leben im Kohlebecken. Der 19-jährige Musikschüler Andrei Tschmychalow ist einer von ihnen. Er wartet in einem Café im Zentrum Kemerowos nach der Schule. Eine edle Konditorei mit erlesenem Mobiliar aus dem Empire. Das Ambiente passt aber zu Tschmychalows Vorlieben für de klassische Musik aus Deutschland und Russland des 19. Jahrhunderts. Tschmychalow schwärmt für den deutschen Komponisten Georg Philipp Telemann.

Der Geiger spricht mit leiser Stimme über seinen Verlust. Sein Halbbruder Wadim ist in den Flammen des Einkaufszentrums umgekommen. Zusammen mit einem Freund war er nach einem Gesangswettbewerb im Kino. Die Mütter, erzählt Tschmychalow, hätten die Söhne noch aus einem Kinosaal retten wollen, schafften es aber nicht. Die Türen gingen nicht auf. Die Frauen seien selbst in Ohnmacht gefallen. Nur ein Zufall hätten ihnen das Leben gerettet. Trotz der dramatischen Erlebnisse wirkt Andrei Tschmychalow, der zarte Geiger, erstaunlich aufgeräumt, ja, ruhig.

Bei der Frage der Schuld ist er jedoch zurückhaltend: Er wolle die Ergebnisse des Ermittlungskomitees aus Moskau abwarten, bevor er ein Urteil fällt, sagt er. Waren die Türen zu den Kinosälen tatsächlich verschlossen? Was hatte es mit den leicht entzündbaren Baumaterialien auf sich? Wer genehmigte den Umbau der ehemaligen Backwarenfabrik in ein Vergnügungszentrum? Wer nahm die Brandsicherung ab? Was hat der Sicherheitsdienst während des Brandes getrieben? Warum traf der Katastrophenschutz erst eine Stunde nach Ausbruch des Feuers ein?

64 Todesopfer sind bislang offiziell bekannt Foto: Sergei Gavrilenko/ap

Schon die Zahl der offenen Fragen gibt eine vorläufige Antwort: Selbst wenn viele Fehler begangen wurden, den spitzfindigen Kontrolleuren in Russland wäre das nicht entgangen. Andrei Tschmychalow ist auch deshalb zurückhaltend, weil er dem Vater nicht schaden möchte. Er leitet eine lokale Fernsehstation. „Vater schweigt“, sagt Tschmychalow. Er möchte ihn mit solchen Fragen nicht behelligen.

Die staatlichen Stellen auf der lokalen Ebene sind auch in Alarmbereitschaft. Die Direktorin des Musikkollegs fragte letzte Woche die Schüler, wer an den Protesten teilgenommen hätte. „Dass ich dabei war, ließ sie durchgehen“, sagt Tschmychalow. „Den anderen Schülern versuchte sie eine Wiederholung auszureden.“

Auch die Stadtverwaltung beim Bürgermeister scheint alarmiert zu sein. Wer hier Auskünfte erwartet, ist umsonst gekommen. Die Reliefs an der Wand im Foyer hatten für dieses Jahr noch eine andere Zukunft vorgesehen. Am 9. Mai 2018 jährt sich die Gründung Kemerowos zum 100. Mal. Das Datum fällt zusammen mit dem Sieg über Nazideutschland 1945 am 9. Mai, Russlands wichtigstem Feiertag. Das Stadtjubiläum ist jetzt überschattet. Ein Feuerwerk zu Ehren der glorreichen Sowjetarmee wurde schon abgesagt. Auch wird überlegt, die Flamme aus dem Logo für die Stadtfeierlichkeiten zu entfernen.

Boris Pawlow schaut von seinem Büro auf die Hinterseite des Einkaufszentrums Simnjaja ­Wischnja. Auf der Rückseite sind mehrere Öffnungen als an der Vorderfront. Die Öffnungen sind verkohlt. Der 29-jährige Aktivist arbeitet im Stab des Putin-Herausforderers Alexei Nawalny. Der Kreml ließ den Antikorruptionskämpfer zur Präsidentschaftswahl jedoch nicht zu.

Wütend: Igor Wostrikow hat seine Familie beim Brand verloren Foto: Sergei Gavrilenko/ap

Pawlow glaubt, dass die Machthaber nicht auf so spontanen Massenproteste wie nach dem Brand eingestellt seien. Angst sei ihnen in die Glieder gefahren. Pawlow ist sich natürlich nicht sicher, hofft jedoch, dass die Tragödie Spuren im Bewusstsein der Mitbürger hinterlassen werde. Diesen Verlust könne doch kein Mensch verdrängen, sagt er und spricht von einer neuen Zeitrechnung – vor und nach der „Winterkirsche“.

Am Sonntag, eine Woche nach dem Brand, ist es dann so weit: Aman Tulejew tritt von seinem Amt zurück. Die Aufgabe könne er mit der moralischen Last nicht mehr erfüllen, sagt er. Glaubwürdig klang das nicht. Putin hatte die Reißleine gezogen. Der Bey war für den Kremlchef zur Belastung geworden. Drei Stunden später meldete die Website des Präsidenten bereits die Ernennung des Nachfolgers. Der bisherige Vize Siwiljow rückt zum Gouverneur auf. Er unterhält enge Geschäftsbeziehungen zu Gennadi Timtschenko. Der Ölhändler und Milliardär mit finnischem Pass von Putins Gnaden zählt zum engeren Kreis der Putin-Vertrauten. Er wird als dessen Vermögensobmann gehandelt.

Die Brandursachen sind auch nach zwölf Tagen noch nicht geklärt. Im Hotel der Moskauer Ermittler funktioniert zumindest die Alarmanlage. Sie holte die Beamten in einer Nacht gleich zweimal aus dem Schlaf. Heißer Dampf geborstener Wasserrohre löste den Alarm aus.

Vor dem Mahnmal gibt unterdessen eine Trauernde ihren ersten Eindruck vom neuen Gouverneur zum Besten. Auch der Neue, sagt die Frau, sehe aus wie ein Dieb.