heute in hamburg
: „Aus dem Leben gerissen vom Faschismus“

Foto: privat

Rüdiger Pohlmann, 62, ist Sozialpädagoge und Mitglied der Projektgruppe „Marions Buch“.

Interview Andrea Scharpen

taz: Herr Pohlmann, was erzählen die Zeichnungen von Marion Baruch?

Rüdiger Pohlmann: Sie zeigen Ausschnitte aus ihrem Familienleben mit ihrem Bruder Rolf und ihrer Schwester Helga. Marion Baruch, eine Jüdin aus Hamburg, hat das Buch mit den Zeichnungen ihrer Schwester geschenkt, die 1936 mit ihrem Mann nach Palästina ging. Die humorvollen Zeichnungen zeigen etwa, wie Helga ihren Mann kennenlernt und wie sie sich verlieben.

Warum soll diese private Familiengeschichte auch andere Menschen interessieren?

Weil es sich hier um eine klassisch normale Hamburger Familie handelt, die durch den Faschismus aus dem Leben gerissen wurde. Diesen jungen Menschen fehlten in ihrer Heimatstadt Hamburg die Möglichkeiten, sich zu entwickeln. Marion wäre sicherlich eine begnadete Zeichnerin geworden. Sie war ausgebildete Plakatmalerin und spielte Klavier. Ihr Bruder wäre gerne Lehrer geworden oder Schriftsteller. Das hat alles nicht stattfinden können. Die Zeichnungen zeigen, dass das keine anderen Menschen waren als wir auch.

Warum ist Marion Baruch nicht mit ihrer Schwester nach Palästina gegangen?

Marion kümmerte sich um ihren Vater. Beinahe wäre sie nach England ausgewandert, aber an dem Tag an dem sie die Bescheinigung zur Auswanderung von der Devisenstelle bekommen hatte, begann der Zweite Weltkrieg. Es fehlten praktisch nur ein paar Tage.

Marion wurde in ein Ghetto nach Minsk deportiert. Wie ist sie als 22-Jährige gestorben?

Ein SS-Hauptscharführer hat im Ghetto ein Plakat für eine Filmankündigung gesehen und gefragt, wer es gezeichnet hat. Er befand, eine Jüdin dürfe nicht so gut malen. Er hat sie dann auf den Friedhof geführt und dort erschossen. Das berichtete später ein Überlebender.

Zeigen Sie in der Ausstellung noch andere Bilder als die aus dem Buch?

Nein, leider sind keine weiteren Zeichnungen von ihr erhalten geblieben. Aber es gibt Erläuterungen und ein paar Informationstafeln zur Familiengeschichte.

Wird in Hamburg an Marion Baruch erinnert?

Ja, es gibt Stolpersteine und am Hannoverschen Bahnhof steht ihr Name. Sie war 16 oder 17 Jahre alt, als sie viele der Zeichnungen gemalt hat. Ich würde mir wünschen, dass sich jüngere Generationen damit identifizieren und begreifen, dass sie immer wachsam sein müssen.

Die Ausstellung „Ach schau an, und wer küsst mir? Der kurze Lebensweg von Marion Baruch“ ist auf Wanderschaft: bis 30. April im Eidelstedter Bürgerhaus; Eröffnung heute 18.30 Uhr, Alte Elbgaustraße 12