Paralympics in Südkorea: Ein kleiner Platz am Bühnenrand

Bei den Paralympics sieht man, wie Gesellschaften auf Minderheiten blicken. Kanada ist Vorbild für Inklusion. In Deutschland gibt es noch Distanz.

Eine Biathletin fährt über die Strecke

Andrea Eskau aus Deutschland beim Paralympics-Biathlon Foto: dpa

PYEONGCHANG taz | Es dröhnt aus allen Ecken in der Eishockeyhalle der Küstenstadt Gangneung. Jubel, Klatschpappen, Popmusik. Darunter mischt sich das spitze Geräusch der Kufen auf dem Eis. Die südkoreanischen Schlittenhockeyspieler stoßen sich mit ihren kurzen Schlägern wuchtig in Richtung Tor. Unterhalb der Hüfte haben sie eine Behinderung, darüber wird gedrängelt, geschubst, geblockt. Doch der Jubel auf den Tribünen schwillt ab. Weltmeister Kanada gewinnt das paralympische Halbfinale 7:0.

Greg Westlake war 2006 in Turin dabei, als Kanada zum letzten Mal das Finale gewann. Sein Oberkörper gleicht einem Schrank, seine Beine mussten amputiert werden, als er achtzehn Monate alt war. „Es ist nicht leicht für kanadische Hockeyspieler, wenn zu Hause alle Perfektion erwarten“, sagt West­lake. „Aber wir kommen mit diesem Druck zurecht.“ Man könnte das als Übertreibung betrachten. Kanada stürmte mit 42:0 Toren ins Finale, am Sonntag warten die USA.

Die Aussagen Westlakes und seiner Kollegen sind aus einem anderen Grund bemerkenswert. Sie sprechen von Eishockey, selten von Schlittenhockey. Sie beschreiben sich als Athleten, kaum als Paralympier. Auf Nachfragen dazu wirken sie überrascht, schließlich sei das doch ganz normal. Und in der Tat: In Broschüren, Werbevideos und Internetkanälen führt der kanadische Eishockeyverband seine olympischen und paralympischen Spieler gemeinsam und in ähnlichem Umfang auf. Ob Taktiklehre, Motivationsseminar, Materialschulung: die Paralympier sind im Gefüge ihrer Sportart aufgegangen. Eine Seltenheit in der Branche.

„Dieses System ist nicht über Nacht entstanden“, sagt Anne Merklinger. „Wir haben es über Jahre entwickelt.“ Die ehemalige Schwimmerin ist Geschäftsführerin von „Own the Podium“, zu Deutsch: Hol dir das Treppchen. Die Organisation wurde 2005 gegründet, mit Blick auf die heimischen Winterspiele 2010 in Vancouver. Um eine bessere Medaillenausbeute zu erzielen, koordiniert sie Trainer, Forscher, Mediziner und Geldgeber für olympische und paralympische Sportarten. Die kanadische Regierung stellt umgerechnet 44 Millionen Euro dafür bereit.

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Kanada war seiner Zeit voraus. 2006 verabschiedeten die Vereinten Nationen das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“, 2008 trat es in Kraft. Dieses menschenrechtlich orientierte Modell spricht sich für Gleichberechtigung aus – und gegen eine Bevormundung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg eta­bliert hatte. Als Oberbegriff steht „Inklusion“, und seither sucht auch der Sport nach einer angemessenen Haltung.

Geld aus Lotteriemitteln

Wenn man Andrew Parsons auf das Thema anspricht, glaubt er zu wissen, was nun kommt. „Wir können Olympische und Paralympische Spiele nicht zusammenlegen“, sagt er vorbeugend auf eine Frage, die ihm immer wieder gestellt wird. „Eine solche Veranstaltung wäre logistisch nicht zu bewältigen.“ Der redegewandte Brasilianer Parsons ist seit September Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC).

Einerseits sucht er die Nähe zu dem reichen IOC, denn die Paralympics sollen auch über 2032 hinaus am selben Ort wie Olympia stattfinden. Andererseits betont er ihre Eigenständigkeit, wohl auch aus der traditionellen Besorgnis heraus, dass der Behindertensport seine einzige Weltbühne verlieren könnte. „Ich mag die Idee, dass behinderte und nichtbehinderte Athleten in den nationalen Verbänden näher zusammenrücken“, sagt Parsons. „Aber es gibt dafür keinen allgemeingültigen Weg. Wir sollten die Kultur und Geschichte des jeweiligen Landes berücksichtigen.“

Es kursieren Geschichten über Stützpunkte und Eliteschulen, die den Namenszusatz „paralympisch“ ablehnen

Der paralympische Sport zeigt auch stets auf, wie Gesellschaften auf ihre Minderheiten blicken. Dem kanadischen Modell folgte zunächst Großbritannien mit Blick auf die Sommerspiele 2012 in London. An der Leistungsspitze sammelte „Team GB“ bei den Paralympics 2016 mehr Medaillen als 2012; das war einem vormaligen Gastgeber noch nicht gelungen. Das Geld kommt zu einem großen Teil aus Lotteriemitteln, doch das Sportministerium will über die inklusive Entwicklung genau informiert werden.

Anders sieht es in Ländern aus, die von einem sozialen Gefälle zwischen Arm und Reich geprägt sind. In Peking finanzierte die chinesische Regierung vor den Sommerspielen 2008 das weltweit größte Trainingszentrum für Paralympier. Auf der Krim spendeten Oligarchen noch vor der russischen Annexion eine moderne Anlage für ukrainische Athleten. In São Paulo wurde ein zeitgemäßer Bau durch den weltweit höchstdotierten Sponsorenvertrag im Behindertensport möglich. In allen Beispielen haben Paralympier hervorragende Bedingungen. Aber sie haben eine Sonderrolle – sie bleiben unter sich.

Vor elf Jahren, kurz nach der UN-Resolution, hatte auch das Internationale Paralympische Komitee den Beschluss gefasst, spätestens 2016 nicht mehr als Fachverband zu wirken. Aber auch noch heute muss das IPC in zehn Sportarten die Weltmeisterschaften organisieren. In Leichtathletik oder Schwimmen, in Skisport oder Schlittenhockey, denn deren Weltverbände sträuben sich noch.

Abstieg in der Funktionärshierarchie

Im föderalen Deutschland ist die Situation zwiespältig. Es gibt inklusive und barrierefreie Musterzentren: Für Skisport in Freiburg, Leichtathletik in Leverkusen, Schwimmen in Berlin. Beim FC St. Pauli hat das Blindenfußballteam eine eigene Abteilung. Auf Landes- und Bezirksebene finden gemeinsame Veranstaltungen in Tischtennis, Kanu oder Triathlon statt. Und auch die Medaillenprämien der Paralympier haben seit 2014 olympisches Niveau erreicht.

Doch es bleibt Distanz, wie in Hintergrundgesprächen deutlich wird. Immer wieder fühlen sich behinderte Athleten von Sportfachverbänden herablassend behandelt. Es kursieren Geschichten über Trainingsstützpunkte und Eliteschulen, die den Namenszusatz „paralympisch“ ablehnen. Es wird über Funktionäre getuschelt, die das gestiegene Fördervolumen des Innenministeriums für den Deutschen Behindertensportverband (DBS) für unangemessen halten. Auf den Infokanälen des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) werden die Paralympics relativ unauffällig dokumentiert.

Diese Beispiele tragen dazu bei, dass einige der 17 Landesverbände des DBS eine Öffnung gegenüber dem DOSB ablehnen. Sie glauben, in einer gemeinsamen Struktur am Rand zu stehen. Und einige fürchten auch den Abstieg in der Funktionärshierarchie. So ist es keine Überraschung, dass im August eine Chance vertan werden könnte: Die Europameisterschaften der nichtbehinderten und behinderten Leichtathleten in Berlin werden getrennt organisiert.

„Bevor wir an die große Inklusion denken, sollten wir innerhalb des Behindertensports inkludieren“, sagt Lars Pickardt, Vorsitzender der Deutschen Behindertensportjugend. Der aus der Versehrtenbewegung entstandene Behindertensport hatte sich in den siebziger und achtziger Jahren aufgefächert. Neben dem DBS gibt es den Rollstuhl-Sportverband, den Schwerhörigen-Sport-Verband, den Gehörlosen-Sportverband und Special Olympics für geistig behinderte Sportler.

Erst einmal fanden Paralympics in Deutschland statt, im Sommer 1972 in Heidelberg; und nicht in München, da ein schneller Umbau des olympischen Dorfs geplant war. „Ein solches Ereignis treibt alle zu neuen Höhen“, sagt Anne Merklinger von der kanadischen Organisation „Own the Podium“. Sozialer Wohnraum ohne Barrieren, Tourismus mit leichter Sprache, Sport für Jugendliche mit und ohne Behinderung: die Spiele von Vancouver haben langfristig Themen angestoßen, weit über das Medaillenzählen hinaus. In Deutschland ist man von dieser Gelegenheit noch viele Jahre entfernt.

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