Transzendentale Obdachlosigkeit

Am Dienstagabend gab Sophia Kennedy zusammen mit Produzent Mense Reents ein großartiges Konzert im Kreuzberger Bi Nuu

Von Kristof Schreuf

Die Straßen rund um den Bahnhof Schlesisches Tor in Kreuzberg sind am Dienstagabend kurz nach 21 Uhr leer, als hätte sie der unter den Gleisen liegende Club Bi Nuu restlos eingesaugt.

Drinnen wechseln so unterschiedliche Menschen freudige Blicke, wie sie sich selbst auf Konzerten selten begegnen. Eine Drehbuchautorin, die einen Film über Musikerinnen vorbereitet, steht neben einem Professor einer Kunstakademie, einem Software-Entwickler und einer Studentin der Angewandten Kulturwissenschaft. Eine Übersetzerin, die französische Philosophie ins Deutsche überträgt, schaut einem Lehrer aus London über die Schulter. Außer ihnen sind etliche Menschen offenbar extra hierhergekommen, um sich zunächst ihre Gefühle füreinander zu gestehen und darauf, zwischen langen Küssen, Arm in Arm umschlungen, versunkene Blicke auf die Bühne zu werfen.

Dort setzt sich die gute Stimmung bei zwei in schöner Eintracht nebeneinander aufgebauten Tischen fort. Auf dem einen liegen ein paar Keyboards, auf dem anderen kräuseln sich Kabel um einen Computer mit dem Apfel auf dem Deckel.

Wirft die Haare ins Gesicht

Rechts beobachtet der schwarz wie ein Theatermusiker gekleidete Mense Reents ruhig und gefasst die Benutzeroberfläche des Rechners, während er mit einer Hand lässig auf ein elektronisches Drumpad tippt. Links wirft die Sängerin Sophia Kennedy in weißer Hose und einem weißen Hemd mit prächtig roten Cowboy-Hüten und Cowboy-Stiefeln darauf ihre Haare ins Gesicht.

Schon vor einem Jahr hat sie ihr erstes Album unter eigenem Namen veröffentlicht, doch die Stimmung im Publikum ist auch jetzt noch erwartungsvoll gespannt wie bei einem Release-Konzert. Das liegt an der erstaunlich haltbaren Energie der mit Reents als Produzent aufgenommenen Songs. Dabei handelt es sich um lauter musikalische Romane, die ohne mit der Wimper zu zucken die unterschiedlichsten Stile versammeln und mühelos disparateste Geräuschkulissen zusammenstellen.

Kennedy spielt wuchtige Klavierakkorde, die Reents in gereizte Perkussions-Frickeleien überführt. Er startet eine Auto-Alarm-Anlage, sie lässt ihre Stimme auffliegen wie Laura Nyro oder rezitiert wie Lotte Lenya. Diese Arbeitsteilung ergibt beim Auftritt einen dramatischen Moment nach dem anderen, und der Höhepunkt ist erreicht, als sich Kennedy in aller Freundlichkeit für ein Leben in transzendentaler Obdachlosigkeit ausspricht: „I don’t know where I live / So I will never feel at home.“ Das Publikum ist nicht mehr bloß hingerissen, sondern bekommt sein Bewusstsein erweitert. Berlin fühlt sich an wie New York. Kennedy bemerkt die Wucht des Moments und fragt mit gespielter Schüchternheit, als wollte sie die Verhaltensregeln üblicher Konzerte parodieren: „Are you okay?“

Darauf lachen einige erleichtert und Kennedy, die studierte Filmerin, streut zur Entspannung eine Coverversion von „Moon River“ ein, das Audrey Hepburn als Holly Golightly in „Frühstück bei Tiffany“ berühmt gemacht hat. Später, nach immer noch mehr forderndem Applaus, versenkt sie sich für die gefühlt fünfzehnte Zugabe in Mose Allisons „Young Man Blues“: „I said: A young man ain’t got nothing in the world these days.“ Ihre Stimme verwandelt den Blues des jungen Mannes in die Melancholie von Menschen aller Geschlechter.

So kann Weltschmerz entstehen, der kein Zuhause braucht und aus so einer Stimmung lassen sich Songs schreiben, die nicht wichtig nehmen, wo sie wohnen. Das ist das Beste, was Musik passieren kann. Zurzeit weiß das niemand so gut wie Sophia Kennedy.