ZERLAUFENDE BILDER
: Fehler in der Matrix

Eine Taggestalt, deplatziert, in der Nacht

Seltsame Dinge passieren in dieser Stadt. Momente, in denen die Wirklichkeit ein Stück zur Seite rückt und dabei den Vorhang lüftet. Ein Fehler in der Matrix – wenn das Bild in Wellenbewegungen langsam zerläuft. Es begann mit dem Buch. Es lag unter einem Baum neben dem Fahrradständer. Beim Schloss-Aufschließen sah ich es: gebunden, auf dem Bauch liegend, wie im Lesen fallen gelassen, der Schutzumschlag verdreht daneben. Ich hob es auf. Ein Bildband von Taschen. Sepiafarbene Fotografien aus dem vorletzten Jahrhundert. Nackte Frauen, die in Posen aus Pornofilmen des 21. Jahrhunderts die Beine spreizen. Nackte Männer, deren aufragende Schwänze auch für Viagra Werbung machen könnten. Ich zog dem Buch wieder seinen Mantel an und stellte es behutsam am Baum ab. Ein knallrosa Kuriosum im Laternenlicht. Am nächsten Morgen war es verschwunden.

Dann tauchte der Mann auf. Er ging die lange Autoreihe vor unserem Haus ab, in der Hand eine Taschenlampe von den Ausmaßen eines Theaterscheinwerfers, auf der Uniform die Aufschrift „Ordnungsamt“. Wie auf einer Nachtwanderung tastete er sich von Auto zu Auto, Parkschein zu Parkschein. Es war weit nach Kino-geh-Zeit und Bürokratenfeierabend. Eine Taggestalt, deplatziert, in der Nacht.

Und dann flog die Bacardi-Flasche. Im hohen Bogen aus einem Hotel, nachmittags, zerschellt sie knapp hinter mir auf der Straße. Ein Mann im Anzug blickt ihr aus einem Zimmer hinterher. Zwei Radfahrer schauen verdutzt. Ein Mann im rosa Kleid, mit glasigem Blick und Federboa, beugt sich aus einem Taxi zu den beiden: „Alles okay bei euch?“ Keine Antwort. „Wir brauchen euch!“ Kurz danach an der Charité: Die Transe stolpert über die Straße, das rosa Kleid bedeckt nur knapp den Hintern, die Federboa hebt sich im Wind. „Wir brauchen euch“? Keine Auflösung. Das Bild zerläuft. MIRIAM JANKE