„Ich hab es mit dem Begriff ‚stolz‘ nicht so“

Georg Uecker ist der wohl bekannteste HIV-Positive Deutschlands. Noch mehr Menschen kennen ihn als Dr. Carsten Flöter aus der „Lindenstraße“. Ein Gespräch über sein Schicksalsjahr 1993. Und was daraus folgte

„Ich bin jemand ganz anderes als Carsten Flöter“, sagt Georg Uecker, der Schauspieler

Von Jan Feddersen
(Gespräch) und Jörn Neumann (Foto)

taz am wochenende: Herr ­Uecker, Ihr Buch heißt „Ich mache dann mal weiter“. Womit denn?

Georg Uecker: Eigentlich mit allem. Mit der Neugier auf das Leben. Mit der Lebenslust. Mit der Arbeit und mit der Suche nach Glücksmomenten. Ich bin jemand, der gerne mal alle vier Herdplatten zugleich anhat. Damit da nichts anbrennt, bleibe ich weiter rührig und umtriebig.

Ist gesundheitlich wieder alles okay?

Ja. Alles prima. Ich hatte Lymphdrüsenkrebs. Ihn zu bekämpfen, bedurfte einer extrem heftigen Chemotherapie. Die Ärzte sagten, die würde mindestens sechs Monate dauern. Aber schon nach viereinhalb waren die Tumore weg. Komplette Remission. Es gibt die Faustregel: Wenn der Krebs in den folgenden fünf Jahren nicht wiederkommt, sind die Chancen sehr hoch, dass man ihn endgültig besiegt hat Jetzt sind es ja fünf mal fünf Jahre.

Sie sind auch HIV-positiv. Auch hier: alles gut?

Da bin ich unter der sogenannten Nachweisgrenze, es gibt keine messbaren Viren mehr. Da darf man sich aber nicht in die Tasche lügen. Ich nehme natürlich den Rest meines Lebens prophylaktisch Tabletten, damit das so bleibt.

Sie haben sich die HIV-Infektion zu einem Zeitpunkt zugezogen, als es noch keine lebensrettenden Medikamente gab.

Das war zwischen 1979 und 1983. 1979 war ich sechzehn und man wusste nicht von dieser Krankheit, die ja auch erst später einen Namen bekam.

Und Sie haben körperlich nichts gemerkt?

Gar nichts.

Andere traf es viel schlimmer.

Ich weiß, ich weiß. Dass ich sehr viele Freunde verloren habe, ist ein großer Schmerz in meinem Leben. Dass es Zeiten gab, in denen ich mehr auf Beerdigungen war als auf Geburtstagsfeiern. Und dass ich meine große Liebe verloren habe. Wenn er noch ein bisschen länger durchgehalten hätte oder die Forschung, die Medizin, ein bisschen schneller gewesen wäre. Dann wäre er vielleicht noch da.

Aber Sie sind noch da.

Und das freut mich sehr. Es bleibt trotzdem die Melancholie, die Trauer, dass so viele andere nicht mehr da sind. Manchmal träume ich, dass die Tür aufgeht und die, die nicht mehr leben, alle reintanzen und sagen „Das war nur ein böser Albtraum“ oder „Wir waren nur mal kurz verreist“. Ich bin zäh, ich habe das entwickelt, was man Resilienz nennt. Es ist sehr von Vorteil, dass ich diese ausgeprägte Widerstandskraft habe, diese Lebenslust.

Ist das eine schwule Spezialität, diese starke Resilienzfähigkeit?

Nein, die hatte meine Oma auch, sie wurde im Zweiten Weltkrieg mehrfach ausgebombt und wuchs nicht nur für ihre Kinder über sich selbst hinaus … Oder wenn man jetzt von den Schicksalen vieler Flüchtlinge hört, da sitzt man ja fassungslos da. Ich denke: Was haben die für eine Kraft, dass die leben wollen. Jahrelang belagert, in Kellern versteckt, Angst vor Bomben, die Familie verloren, nicht wissen, wo die Überlebenden sind. Eine riskante Flucht in fremde Länder, in denen sie angefeindet werden. Sie alle haben das, was ich „Ich mach dann mal weiter“ nenne.

1993 haben Sie auch einfach weitergemacht …

Ach, aus der zeitlichen Entfernung klingt das einfach und war es doch nicht. Im Prinzip hatte ich damals fast alles verloren. Ich lebte in London, mein Freund war gestorben. Ich war in tiefer Trauer. Ich habe die Wohnung aufgelöst, bin zurück nach Deutschland. Es ging mir richtig scheiße, ich dachte, die Trauer, der Schmerz werden sich in den Körper hineinschreiben. Aber irgendwann habe ich gemerkt, da ist noch was anderes, irgendwas stimmt hier nicht. Dann Krankenhaus, die niederschmetternde Doppel-Diagnose „Krebs und HIV“, die Chemotherapie mit den heftigsten Nebenwirkungen. Ich lag da teilweise wirklich wie ein Stück rohes Fleisch. Ich war Freiberufler, konnte nicht arbeiten, die Schulden häuften sich an.

Das war sehr weit unten.

Ich hatte Schmerzen, Diarrhö, Augen- und Ohrenentzündungen, Polyneuropathie, also eine Nervenentzündung, bei der man kaum auftreten kann. Ich hatte nicht mehr viel, eigentlich gar nichts. Was mir blieb, war die Liebe und Unterstützung durch meine Familie und Freunde. Das klingt immer so banal, aber das bedeutet so unglaublich viel.

HIV-Infizierte mussten bis 1996 warten, ehe realistisch lebenserhaltende Medikamente vorhanden waren. Hatten Sie in den vielen Jahren zuvor Tag für Tag Angst?

Die ersten Medikamente gab es schon etwas früher, AZT etwa. Und nein, es kam mir nicht vor, als lebte ich ständig am Abgrund. Ich dachte einfach: Okay, da bin erst mal ein bisschen Optimist. Die Chemo hatte ich hinter mir, es ging bergauf, die HIV-Infektion erschien mir eher wie eine abstrakte Bedrohung. Vor allem wollte ich zurück ins Berufsleben.

Ihre Ärzte fanden das okay?

Meiner sagte: Sie haben jetzt Ansprüche auf eine Kur. Und ich sagte: Nein, unter gar keinen Umständen. Der Gedanke, nach Monaten im Krankenhaus nach Sankt Peter-Ording oder Bad Salzuflen zu reisen, um zu kuren. No way!

Warum nicht?

Arbeiten wollte ich, wieder zurück ins Leben. In einem nachgelassenen Text von Wolfgang Herrndorf steht, dass ihm auch alle gesagt haben, er möge sich schonen. Wollte er nicht. Und ich auch nicht. Ich war mit Schonung so was von fertig. Wenn du im Krankenhaus liegst, mit einer Augeninfektion und an die Decke starrst, morgens das Radio läuft und dann das Frühstück kommt … Alles dreht sich im Kreis. Aus dem wollte ich raus wie nix.

Sie wollten offenbar nicht die Seele baumeln lassen.

Um Gottes willen, nein. All diese Begriffe: schonen, achtsam sein, achte auf dich, pass auf dich auf … Da sag ich: Kinder, ich weiß, dass die Vorschläge alle lieb gemeint sind, aber die Wahrheit ist jenseits der Worte – diese Worte sind allesamt Worthülsen. HIV – ist ein Fakt in meinem Leben. Ich nehme seit 25 Jahren Tabletten quasi so, wie ich mir die Zähne putze. Fertig. Sie sollen nicht mein Leben bestimmen.

Georg Uecker

Der Schauspieler

Seit seinem ersten Auftritt 1986 in Folge 6 gehört Georg Uecker zum Urgestein der TV-Serie „Lindenstraße“, als Dr. Carsten Flöter. Uecker wurde 1962 geboren und wuchs in Bonn auf. Er hat ZDF-Shows wie „Kaffeeklatsch“ und „Blond am Freitag“ mitentwickelt, die Sat.1-Comedy „Schillerstraße“ moderiert, und er spielt Theater.

Das Buch

1993 stirbt sein Freund John an Aids, Uecker selbst erhält im Rahmen einer Krebsbehandlung eine HIV-Diagnose. Sein Lebensbericht „Ich mach dann mal weiter“ (14,99 Euro, 272 S.) ist kürzlich bei Fischer Taschenbuch erschienen.

Sie sind eine Legende in Deutschland, der erste schwule Schauspieler in einer schwulen Rolle. Als Carsten Flöter küssten sie in der „Lindenstraße“ einen anderen Mann. Sind Sie stolz auf diesen Ruhm?

Ich hab es mit dem Begriff „stolz“ nicht so. Es hat ja oft ein egozentrisches oder politisches Geschmäckle. Wenn irgend so eine Dumpfbacke „Ich bin stolz darauf, ein Deutscher zu sein“ posaunt, kann ich nur erwidern: Du bist auf etwas stolz, das so ziemlich das Einzige ist, wofür du nichts kannst und nichts beigetragen hast. Außerdem ist Stolz auch nah am Hochmut.

In der „Lindenstraße“ …

Nein, ich bin nicht stolz darauf. Ich sage: Ich bin aufrecht da durchgekommen. Ich habe nicht die Idee gehabt und nicht das Drehbruch geschrieben. Ich habe ja erst mal nur gemacht, was mein Job ist. Die Szene stand im Drehbuch für meine Rolle, und die hatte ich zu spielen. Mein Beitrag dazu war natürlich, dass ich offen mit meiner Homosexualität umgegangen bin, dass ich auf Veranstaltungen aufgetreten bin, diskutiert habe. Weil ich nicht nur ein politisch denkender, sondern auch aktiver Mensch bin. Doch manchmal gibt es da einen Glücksmoment. Und ich sage mir, die Entscheidung, diesen Weg zu gehen, war richtig. Auch wenn der Preis sehr hoch war.

Welcher denn?

Es gab extrem heftige Reaktionen auf diesen Kuss. Zweier Männer zur besten Sendezeit, in der „Lindenstraße“, der ersten deutschen Fernsehserie, die sich zum Ziel gesetzt hat, aktuelle, bundesrepublikanische Wirklichkeit zu spiegeln. Das ging von Beschimpfungen über Beleidigungen bis hin zu Bedrohungen. Viele dieser Briefe landeten im Giftschrank des WDR. Viele gingen aber auch an mich. Und die Bekloppten, die wirklich mit massiven Mord- und Bombendrohungen daherkamen, schickten teilweise Briefe an die „Dreckslindenstraße München“ – und die kamen trotzdem an. Da muss man der Post mal ein Kompliment machen, dass sie die Briefe gleich nach Köln zur Produktion umleitete.

Hatten die Hassbriefe für Sie noch persönliche Folgen?

Ich merkte erst allmählich, dass ich zur Zielscheibe geworden war. Teilweise musste ich mit Personenschutz leben. Das war natürlich ziemlich unkomisch. Ein Beamter sagte: „Machen Sie sich nicht so Sorgen, es ist nur prophylaktisch.“ Da habe ich gelacht und gesagt: „Das will ich doch schwer hoffen.“

Aus der Schwulenszene kam teils auch Giftiges gegen Sie.

Ohne dass ich das vorher ahnte, war ich zur Projektionsfläche geworden. Offen Schwule gab es im Fernsehen sonst nicht. Man fragte „Sind die Schwulen so?“ oder „Bist du der Klassensprecher?“ Und ich sagte überall, wo ich hinkam: Kinder, ich schreibe nicht die Drehbücher. Einige Leute, die schon emanzipierter waren, sagten: „Was ist das denn für eine bürgerliche Figur?“ Aber warum soll es keine bürgerlichen Schwulen geben?

Der Kuss fand im März 1990 statt, anderthalb Jahre ehe Rosa von Praunheim Alfred Biolek und Hape Kerkeling als schwul outete – und das notwendig war, weil sich ja sonst niemand öffentlich als schwul zeigte. Wie kam denn der „Lindenstraßen“-Kuss in der TV-Branche an – und unter Schwulen selbst?

Ich finde nicht, dass dieses öffentliche Zwangsouting notwendig war. Rosa von Praunheim hat das später selbst als Fehler bezeichnet. Ich bekam viel Unterstützung, vor allem von heterosexuellen Kollegen. Aber es gab natürlich auch die „Schrankschwestern“, wie ich sie nenne – Homos, die sich gut in ihren Zonen eingerichtet hatten, ohne als schwul aufzufallen, und dies sehr bedeckt hielten. Die haben bei öffentlichen Veranstaltungen einen großen Bogen um mich gemacht.

Ist es heute für schwule Schauspieler leichter geworden?

Ein bisschen, ja. Die mediale Präsenz Schwuler ist stärker geworden. Es gibt jetzt viele Bilder von Schwulen – die Prototyp-Debatte an meinem Beispiel ist passé. Die Quantität ist gestiegen, die Qualität nicht unbedingt. Es dominieren zwei klassische Stereotype. Das eine ist die aufgekratzte hysterische Tunte, zur Belustigung aller. Die einfach auch mal nur nervig ist. Das andere Stereotyp ist der junge, leckere Twink-Emo …

ein junger schlanker, möglichst haarloser Typ mit Schwiegermutterappeal …

Ich finde, man könnte auch mal schwule Männer zeigen, die eine Plauze haben, Postboten oder Gabelstaplerfahrer ohne Lifestyle-Chichi sind, Beamte oder Hartz-IV-Empfänger. Immerhin: Ich spiele in der „Lindenstraße“ nun einen alleinstehenden Homosexuellen, der nicht aussieht wie ein Model, keine kreischende Tunte ist, auch nicht dauernd agil, sondern der älter wird und Brüche im Leben hinter sich hat. Das finde ich schon wieder lustig, nein, ich finde das gut.

Ist es nicht auch gut, dass es mit dem von Mark Waschke gespielten Robert Karow auch einen schwulen „Tatort“-Kommissar gibt?

Na klar. Wobei auffällt, dass ein heterosexueller Schauspieler, der einen Homosexuellen verkörpert, oft mit Preisen überschüttet wird. Es heißt dann: Ist das nicht mutig? Tom Hanks in „Philadelphia“und William Hurt in „Kuss der Spinnenfrau“ – beide haben dafür einen Oscar bekommen. Und das sind nur die prominentesten Beispiele. Aber schwule Schauspieler wie Rock Hudson und Montgomery Clift wurden für ihre Hetero-Rollen nie mit einem Oscar ausgezeichnet. Statt einen Preis zu bekommen, mussten sie einen hohen Preis zahlen.

Dafür, dass sie als schwule Männer nicht bekannt werden durften?

„Ich finde, man könnte im TV auch mal schwule Männer zeigen, die eine Plauze haben, Postboten oder Gabelstaplerfahrer sind – ohne Lifestyle-Chichi“

Allein schon für ihre Doppelleben müssten die einen Oscar bekommen. Sie waren der absolute Frauenschwarm. Was für schauspielerische Leistungen! Bei mir hieß es immer, ach, der ist ja sowieso schwul, dann konnte er ja auch diesen „Lindenstraßen“-Kuss landen. Das ging und geht mir auf den Zeiger. Ich bin jemand ganz anderes als Carsten Flöter.

Der echte Georg Uecker fuhr 2006 nach Warschau zu einer Christopher-Street-Parade. War das „Lindenstraßen“-Team damit einverstanden? Immerhin hatte ja das Auswärtige Amt eine Reisewarnung herausgegeben.

Hans Geißendörfer, mein Chef, hat mich da voll bestärkt. Auf Bitte der polnischen Veranstalter um internationale Unterstützung habe ich mit meinem Freund Thomas Hermann, dem Internet-Unternehmer Wolfgang Macht und dem Journalisten Holger Wicht das Bündnis „Warschauer Park 2006“ gegründet. Deutsche, die sich auch international für Bürgerrechte unter dem Regenbogen einsetzen.

Wie war es in Warschau?

Beeindruckend. Wie mutig unsere Brüder und Schwestern dort für ihre Interessen kämpften und sich nicht kleinkriegen lassen wollten. Vor unserer Reise erschienen in polnischen Medien Karikaturen mit Männern in SS-Uniformen, die anstelle einer Hakenkreuz- nun eine Regenbogen-Armbinde trugen. Das war, ironisch gesprochen, schrill. Aber eben auch perfide. Dabei war immer klar, dass wir aus einem Land kommen, das Polen in jeder Hinsicht schrecklich mit der Wehrmacht heimgesucht hat. Am Ende blieb es durch die rechten Gegendemonstranten aufgeheizt, wir wurden beschimpft und hier und da mit Eiern beworfen, aber unser Personenschutz konnte Schlimmeres verhindern. Und toll war es, doch.

Welche Erkenntnisse haben Sie daraus gezogen? Dass „Europa“ doch komplizierter ist als von libertären Deutschen gedacht?

Europa ist weit mehr als ein Kontinent, Europa ist eine Idee. Und zwar eine gute. Homophobie ist ja leider ein weltweites Problem. Das habe ich geradezu exemplarisch in Jerusalem erlebt, beim World Pride. Bei den Gegendemonstranten sah man, wie sich Christen, Juden und Muslime kurzfristig solidarisierten. Die, die sich sonst misstrauen, verachten und bekämpfen, waren sich nun einig, dass wir Queeren richtig scheiße sind. Das ist nicht neu, aber wenn du das einmal erlebst und denkst: Ihr ballert euch ab, ihr schürt Hass aufeinander, aber ihr verbrüdert euch auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, und das ist die Homophobie.

Resignieren Sie?

Auf keinen Fall. In meinem Buch erzähle ich ja auch von dem Mädchen, mit dem ich beim CSD in Warschau sprach. Sie erzählte mir von ihrem Bruder. Mit 14 merkte er, dass er einen Klassenkameraden begehrt, der durfte das natürlich nicht wissen. Der Junge war verzweifelt. Um der Familie keine Schande zu machen, ging er nachts in die Scheune und erhängte sich. Das macht mich so traurig und wütend. Und das spornt meinen Kampfgeist an.

Wie geht’s mit Ihnen weiter?

Meine vier Herdplatten bleiben gleichzeitig an. Ja, ich rechne mit mir.

Jan Feddersen, 60, ist taz-Redakteur für besondere Aufgaben. Er lernte Georg Uecker 2006 auf der Pride-Parade in Warschau kennen.

Jörn Neumann, 39, ist Fotograf und Dokumentarfilmer und lebt in Köln. Er hat Uecker 2007 schon einmal für die taz fotografiert.