Das Diktat von Greenwich

Bei „Salims Salon“ im Konzerthaus traten fünf Musizierende an, die Klänge außereuropäischer Musiktraditionen zu verfremden

Die Geräusche surren, kratzen und kringeln. Die Magen­nerven werden strapaziert Foto: Adrian Schmidt

Von Vincent Bruckmann

Die bunten Stuhlreihen des Werner-Otto-Saals im Konzerthaus sind nur halb gefüllt. Liegt es daran, dass die vier MusikerInnen schon den zweiten Abend in Folge auftreten? Oder scheut das Berliner Publikum das Experiment, das das Konzerthaus hier unternommen hat? Im Publikum finden sich ZuschauerInnen, die es sonst wahrscheinlich nicht ins Konzerthaus verschlagen hätte. Die vier MusikerInnen, die hier auftreten, sind wohl nur Menschen bekannt, die sich für elektronische Klangexperimente interessieren.

Die vier sitzen zu Beginn an einem Tisch am Rand des Saals. Sie plaudern, trinken Tee aus einer Kaffeekanne, wie in einem Salon. „Salims Salon“ ist dieses „szenische Konzert“ auch betitelt. Nach und nach kommen sie auf die Bühne. Es fällt schwer, überhaupt von einer Bühne zu sprechen. Eine Konstruktion von Holztischen mit einem Gewirr aus Kabeln, Verstärkern und einigen wenigen herkömmlichen Instrumenten ist der Spielplatz.

Seth Ayyaz macht den Anfang. Er stellt sich an seine Regler. Mit dem ersten Geräusch entsteht ein Sog, der den Zuhörer vereinnahmt und bis zum Ende dieser einstündigen Performance nicht mehr abreißt. Ayyaz arbeitet mit Vibrationen, er kreiert Geräusche mit Hilfe von traditionellen arabischen Instrumenten wie der Nay (Langflöte) oder der Daf (Handpercussion) und verändert sie mit elektronischen Hilfsmitteln so sehr, dass nur ein Hauch vom ursprünglichen Sound übrigbleibt. Die Geräusche surren, kratzen und kringeln. Die Magennerven werden strapaziert, Unbehagen ausgelöst.

Die Ägypterin Jacqueline George gesellt sich zu Seth Ay­yaz, und das gemeinsame Spiel beginnt. George schiebt an ihren Reglern und singt etwas in ihr Mikrofon, um es sofort bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren. Als Zuhörer fühlt man sich an eine Bühne im Jazzclub erinnert, in dem eine Improvisationssession angesetzt ist und alle MusikerInnen die Bühne ganz nach ihrem Gusto betreten und verlassen.

Kritiker heben häufig die Herkunft von Künstlern hervor, und fast ebenso häufig ist das überflüssig. Bei der Beschreibung dieses Konzerts ist es paradoxerweise eben deswegen notwendig, da die vier MusikerInnen sich diesen Zuschreibungen zu entziehen versuchen.

Die in Kamerun geborene und in Berlin aufgewachsene Anaba M’bala Elsa Tatiana betritt die Bühne und stellt sich vor ihren Synthesizer. Man möchte sie fast drängen, die afrikanische Kalimba (Daumenklavier) und die Rasseln, die sie vor sich liegen hat, so zu verwenden, wie man es gewohnt ist. Doch diesen Gefallen tut sie dem Publikum nicht.

Man ertappt sich dabei, wie man mit der Herangehensweise ringt, wie man kategorisieren will. Hört man dort vielleicht den Gesang eines Muezzins? War das nicht gerade ein Dudelsack? Das Ticken der Uhr, das hört sich doch an, wie Pink Floyds „Time“! Als könnten sie Gedanken lesen, zerstören die Musiker just in diesen Momenten jeglichen Wiedererkennungswert. Stereotype „arabischer“ oder „afrikanischer“ Musik gelten für die vier nicht, das „Exotische“, was sich so manche von diesem Konzert vielleicht erhofft haben, bekommen sie von ihnen nicht zu hören.

In aus dem Off eingespielten O-Tönen erzählen die vier Musizierenden von ihrem Weg zur Musik. Man erfährt: Es war eine ständige Suche nach sich selbst, der eigenen, individuellen Identität in einer Gesellschaft, die sie lieber in Schubladen steckt. Die vier rächen sich mit der betörenden Strukturlosigkeit ihres Auftritts. Aber die Frage bleibt: Inwiefern zementiert man Zuschreibungen und Identitäten erst, in dem man sie so stark betont, auch wenn das Ziel ihre Dekonstruktion sein mag?

Hört man dort den Gesang eines Muezzins? War das nicht gerade ein Dudelsack?

Der künstlerische Leiter des Projekts, der Komponist Hannes Seidl, hat unter anderem durch diese Audioaufnahmen eine Struktur vorgegeben und ist damit in die Rolle des weißen Mannes, der versucht zu ordnen und zu takten. Er ist sich dieser Probleme bewusst. Der fremde Takt ist das Thema dieses Abends und Gegenstand der Komposition: Die Stimmen aus dem Off sprechen nicht nur über eigene Erfahrungen, sondern die „Taktung, die Kolonisierung des Fremden durch ein fixiertes Zeitregime“, wie Seidl es formuliert.

Die Stimmen zitieren aus Texten, unter anderem aus „The Colonisation of Time“ von Giordano Nanni. Es werden Zusammenhänge hergestellt zwischen dem Greenwich-Zeitdiktat, gottähnlichen Dirigenten und den Hierarchien an den Konzerthäusern dieser Welt. „Neben dem Skript habe ich als Komponist hier eher die Rolle des Zuhörers eingenommen“, sagt Seidl. Wie ein Fußballtrainer habe er zur Improvisation beim Üben Feedback gegeben.

Mit Synthesizer und Cimbalom reiht sich Cedrik Fermont, geboren im Kongo, aufgewachsen in Belgien, in die Reihe der vier Dekonstrukteure ein. Der drahtige Soundkünstler mit Irokesenfrisur und Springerstiefeln fabriziert mit seinen Reglern und Instrumenten Klänge, die so unbekannt bekannt scheinen, dass man fast wütend wird beim Versuch, sie einzuordnen. Ein älteres Ehepaar hat nach einiger Zeit genug. Der Mann verlässt den Saal, seine Frau zögert kurz, folgt ihrem genervten Ehemann dann aber.

Dieses Konzert, das in einer Zusammenarbeit mehrerer Konzerthäuser entstanden ist, hätte größeren Zuspruch verdient gehabt. Mit einem Verlust des Zeitgefühls, erschöpft und herausgefordert, verlässt man schließlich den Saal.