Isst du das mit?

UMWELT Und wieder will einer mit essbaren Verpackungen das Müllproblem lösen. WikiCell packt Lebensmittel in eine Hülle mit Geschmack

VON LISA GOLDMANN

Wenn wir Lebensmittel im Supermarkt kaufen, bekommen wir fast immer etwas dazu: Pappkartons, Plastikfolien, Cellophanhüllen, Tetrapacks. Alles Dinge, die noch lange bestehen bleiben, wenn wir die Lebensmittel längst aufgegessen haben. Wäre es nicht schön, wenn gar nichts zurückbliebe? Angesichts der 15 Millionen Tonnen Verpackungsabfall, die sich jedes Jahr in Deutschland ansammeln, ein verlockender Gedanke. „Bald wird es kein Plastik mehr in Lebensmittelverpackungen geben“, verkündet jetzt Harvard-Professor James Edwards. Er hat eine essbare Verpackung für Lebensmittel entwickelt, WikiCell nennt er sie.

„WikiCell ist eine ökologische und kulinarische Innovation“, schwärmt Edwards am Telefon, „die Verpackung ist nicht nur essbar, sie ist auch noch nahrhaft und wir können sie in fast allen erdenklichen Geschmacksrichtungen herstellen.“ Edwards kling euphorisch. Auch wenn sein kleines Nischenprodukt sicher nicht das ganz große Müllproblem lösen kann, verfolgt er einen interessanten Ansatz. Für ihre Verpackung haben sich Edwards und sein Team an der Natur orientiert. Wie bei einer Traube umschließt eine dünne Haut die Lebensmittel. In einem YouTube-Video beißt Professor Edwards, wuscheliges Haar, dicke Brillengläser, in einen tischtennisgroßen Ball: Eiscreme mit WikiCell-Hülle.

Die Hülle gibt es in verschiedenen Geschmacksrichtungen, Schokolade zum Beispiel oder Kokosnuss. „Sie können das Eis aus dem Gefrierfach nehmen und in der Hand halten, es wird nicht auslaufen, weil die Hülle nicht schmilzt“, erklärt Edwards, „Sie können sie sogar abwaschen.“

Auch Joghurt, Käse und Orangensaft hat Edwards bereits mit WikiCell ummantelt. Seine Produkte sehen alle ähnlich aus: verschieden große Kugeln mit fester Haut und flüssigem Inhalt. Die Hülle besteht ganz aus natürlichen Stoffen. Zu den Auszügen aus Obst, Gemüse oder anderen Geschmacksträgern kommt ein Biopolymer wie Algin, ein Bestandteil von Algen, das die einzelnen Zutaten miteinander verbindet. Salze wie Magnesium oder Kalzium sorgen für Festigkeit. Für Transport und Lagerung allerdings ist die WikiCell-Hülle noch zu instabil, deshalb gibt es eine zweite Verpackung, die die einzelnen mit WikiCell umhüllten Produkte schützt. Diese Sekundärverpackung ist eine Box aus Bagasse, einem Nebenprodukt der Rohrzuckerproduktion. Zwar ist diese Verpackung nicht zum Essen gedacht, aber komplett biologisch abbaubar, inklusive der Farbe, mit der sie beschriftet werden kann.

Essbare Verpackungen passen gut zu unserer Wohlstandsgesellschaft, die zwar Umweltbewusstsein entwickelt hat, ihre Gewohnheiten aber nicht ändern will. Wie gemacht für Menschen, die auf ihren morgendlichen Coffee to Go nicht verzichten möchten, aber ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie die Einwegbecher in den Müll werfen.

Eben weil die Idee so verlockend ist, ist sie auch nicht ganz neu. Schon vor dreißig Jahren gab es Versuche, essbare Verpackungen herzustellen. Abgesehen von der sehr erfolgreichen – aber nur äußerst begrenzt haltbaren – Eiswaffel hat es keine von ihnen zum Massenprodukt geschafft. Inzwischen hat man die Forschung in Deutschland wieder aufgegeben. „Verpackungen und Essbares erfüllen so unterschiedliche Kriterien, dass es wenig Sinn macht, sie miteinander zu kombinieren“, sagt Winfried Batzke, Geschäftsführer beim Deutschen Verpackungsinstitut. „Verpackungen müssen so vielem standhalten, Lagerung, Transport, sie verpacken Lebensmittel hygienisch und machen sie länger haltbar. All das kann eine Verpackung, die auch noch essbar sein soll, nicht leisten.“

Wie schwierig es ist, Essbarkeit und Stabilität miteinander zu verbinden, musste auch Karl Tiefenbacher erkennen, Produktentwickler beim österreichischen Waffelhersteller Haas. Ende der achtziger Jahre entwickelte er einen essbaren Joghurtbecher, der aus einer süßen Weizenwaffel bestand. Sie wurde mit einer Fettmischung beschichtet, damit sie stabiler wird. „Aber der Becher war einfach zu fehleranfällig“, sagt Tiefenbacher. „Einige der Becher sind beim Gebrauch kaputtgegangen, bei anderen ist der Joghurt durchgeweicht. Außerdem war die feste Fettschicht immer ein Problem, das war wirklich kein angenehmes Kaugefühl“, erzählt er. Zu teuer war der Becher außerdem: Mehl für Waffeln kostet mehr, als Holzfasern für Pappe kosten. Das Projekt wurde eingestellt.

Diese Herausforderungen, Stabilität, Haltbarkeit, Kosten, Hygiene, habe WikiCell, so sein Schöpfer Edwards, gelöst – durch die Kombination aus essbarer Hülle und biologisch abbaubarer Box als Außenverpackung. „Unser Verfahren ist umweltschonend und billig. Wir können mit herkömmlichen Verpackungen absolut mithalten“, behauptet er.

Hip sieht WikiCell jedenfalls aus. Auf einer modern designten Website werden die Bälle, gefüllt mit Eiscreme, Joghurt, Käse in ästhetischen Bildern präsentiert. Die ersten Produkte sollen ab Frühjahr 2013 in Paris angeboten werden, dort betreibt Edwards seinen Lab Store, einen Laden mit glänzenden Oberflächen und wenigen, ausgesuchten Produkten im Regal. „Unsere ersten Kunden werden sicher Menschen sein, die sich für Innovationen interessieren und Experimente eingehen wollen“, sagt er. Er will die Produktpalette erweitern, Lebensmittel mit WikiCell-Hülle sollen in ein paar Jahren in Supermärkten verkauft werden, auch in Deutschland.

Den Traum, einfach so weitermachen zu können wie bisher und dabei trotzdem das Müllproblem zu lösen, muss Edwards allerdings zerschlagen. „Eine WikiCell-Welt wird sich von der Welt, wie wir sie heute kennen, unterscheiden“, sagt er. „Unsere Verpackung ist nicht unbegrenzt haltbar wie Dose, Tetrapack oder PET-Flasche.“ Zwar können die meisten Produkte mehrere Monate gelagert werden, aber nicht mehrere Jahre. Dennoch ist er überzeugt: „Wir werden das Plastikzeitalter bald hinter uns lassen.“

Während Edwards Verpackungen aufessen und so verschwinden lassen will, hat sein deutscher Kollege Michael Braungart einen ganz anderen Ansatz. Der Chemieprofessor will einen Kreislauf erzeugen: Alles, was in seiner alten Form nicht mehr gebraucht wird, soll einer neuen Form und Bestimmung zugeführt, im besten Fall sogar aufgewertet werden. So wie Braungarts Folie für Tiefkühlessen. Aufgetaut verwandelt sie sich in harmlose Flüssigkeit und enthält Samen seltener Pflanzen – man kann sie buchstäblich auf die Straße werfen und es entsteht etwas Neues.

In Edwards’ WikiCell sieht Braungart deswegen einen Denkansatz in die richtige Richtung, aber nicht die Lösung des Problems. Das müsse man genereller angehen. Braungart, Leiter des Hamburger Umweltinstituts, plädiert dafür, Begriffe wie Verpackung, Müll und Nahrung komplett neu zu denken. „Es ist doch alles entweder Verpackung oder Inhalt: Schuhe, Häuser, Autos, das alles sind Verpackungen für Menschen“, sagt er, „und all diese Verpackungen essen wir schon jetzt mit, allerdings unfreiwillig.“

Wie? Durch Abrieb geraten Partikel in die Luft, die wir atmen und in die Nahrung, die wir essen. Ein Hosenboden reibt auf dem Autositz, winzige Teilchen lösen sich und landen schnell in der Lunge. Die Phosphorsäure in Cola zersetzt langsam, aber stetig die PET-Flasche, Cola und Fruchtsäfte in Plastikflaschen enthalten fast zehnmal mehr vom schädlichen Stoff Antimon, als im Leitungswasser erlaubt ist. Deswegen müsste man eigentlich jede Art von Verpackung so zusammensetzen, dass sie für den Menschen nicht schädlich ist, also alle Giftstoffe komplett verbannen.

Braungart hat Möbelbezüge entwickelt, die für den Menschen gänzlich unschädlich sind. „Das sind Fasern, die könnten Sie sich theoretisch auch ins Müsli schneiden“, sagt er. Einige Bus-, Bahn- und Flugunternehmen haben schon auf die nichtschädlichen Bezüge umgestellt, darunter die Schweizer Bahn.

Mit einem Punkt kann sich Braungart allerdings schon anfreunden: „Wir können die Idee der essbaren Verpackung auf Tiere ausweiten“, schlägt er vor, „Maden oder Pilze können natürliche Verpackungen zum Beispiel in wertvolle Biomasse umwandeln. Und die Maden verfüttern wir dann einfach an Hühner.“