Vom Schlachthof nach Auschwitz

Vor 75 Jahren wurden fast 300 Sinti und Roma aus Norddeutschland im Bremer Schlachthof eingesperrt und anschließend nach Auschwitz deportiert. Unzählige Quellen, die die Verstrickung der Behörden dokumentieren, liegen noch immer unausgewertet in den Archiven der Stadt

Gedenkort am Schlachthof: Seit 23 Jahren erinnert diese Tafel an die deportierten Sinti und Roma Foto: Kulturzentrum Schlachthof

Von Ralf Lorenzen

An diesem Wochenende werden wieder viele Menschen an der Metallplatte vorbeikommen, die seit 23 Jahren an der Auffahrt zum Kulturzentrum Schlachthof steht. Tagsüber die Skater, abends die Besucher des Phillip-Boa-Konzerts. Rostrot ist die Platte, mit Spuren versuchter Schändungen, die die eingefrästen Buchstaben nicht überdecken konnten: „Im März 1943 wurden Sinti und Roma aus Bremen und Norddeutschland vom Gelände des Schlachthofes aus in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert“, lautet der erste Satz. 75 Jahre ist das jetzt her und darum werden an diesem Samstag der Vorsitzende des Bremer Sinti-Vereins, Hermann Ernst, und andere Sinti und Roma aus Bremen und Bremerhaven herkommen und einen Kranz niederlegen. „Das Leid ist für die Nachfahren der Opfer und Überlebenden immer noch spürbar“, sagt Ernst. „Deshalb ist es so wichtig für uns, an Tagen wie diesen gemeinsam an die Geschichte zu erinnern und der Opfern zu gedenken.“

„Der 8. März 1943. Ein Tag, den ich wohl niemals vergessen werde“, sagte der Sinto Rudolf Franz 1961 im Ermittlungsverfahren gegen den Leiter des „Zigeunerdezernats“ bei der Bremer Kriminalpolizei, Wilhelm Mündrath. „Etwa gegen 7.00 Uhr morgens wurden meine Mutter, eine meiner Schwestern mit ihren beiden Kindern und ich selbst aus unserer Wohnung heraus von uniformierten und mit Karabinern bewaffneten Polizeibeamten verhaftet und zu der Polizeiwache in der Westerstraße gebracht.“ Von dort ging es weiter zum Schlachthof auf der Bürgerweide, wo fast 300 deutsche Sinti und Roma aus dem Kripo-Leitstellengebiet Bremen, das weite Teile Nordwestdeutschlands bis nach Ostfriesland umfasste, zusammengepfercht wurden. Die Polizisten erzählten ihnen, man werde sie mit ihren Familien in Polen neu ansiedeln. Viele wollten es nur zu gern glauben, obwohl sie nur das Nötigste mitnehmen durften.

Szenen wie am Bremer Schlachthof spielten sich im März 1943 überall in Deutschland in bahnhofsnahen Hallen ab. Die Nazis begannen, den sogenannten Auschwitz-Erlass Himmlers vom 16. 12. 1942 umzusetzen, etwa 23.000 Menschen in das sogenannte „Zigeunerfamilienlager“ verschleppt. Die Wenigsten haben überlebt.

Fast alles, was heute über die Umstände der Verfolgung der Sinti und Roma in Bremen und Bremerhaven bekannt ist, hat der in Bremen geborene Historiker Hans Hesse erforscht und 1999 mit Jens Schreiber in dem Buch „Vom Schlachthof nach Auschwitz“ veröffentlicht. Seitdem ist in der Forschung zu diesem Thema kaum etwas passiert. Unzählige Quellen, die die Verstrickung von Polizei-, Gesundheits-, Finanz- und Bildungsbehörden dokumentieren, liegen unausgewertet in den Archiven.

Hesse hat die Spur also selbst wieder aufgenommen. Vor Kurzem veröffentlichte er in einem Aufsatz erstmals die Namen der 158 Bremer Sinti und Roma, die im März 1943 über den Schlachthof nach Auschwitz deportiert wurden. Gefunden hat er sie in den Bremer Zeitungen vom 27. Juni 1943, die bekannt machten, dass „das inländische bzw. hinterlassene Vermögen der nachstehenden Personen zugunsten des Deutschen Reiches“ eingezogen werde.

Die Gedenkstätten für die Sinti und Roma in Bremen haben sich, wie auch die Forschung, in den letzten 20 Jahren nicht weiterentwickelt. Andere Städte sind da weiter – so wurde in Hamburg im vergangenen Jahr am dortigen Deportationsbahnhof, dem Hannoverschen Bahnhof, gemeinsam mit den Opfergruppen ein Gedenkort mit geplantem Dokumentationszentrum eingeweiht.

„Bremen sollte sich Hamburg zum Vorbild nehmen“, sagte Hans Hesse der taz. „Die Voraussetzungen sind sogar besser als am Hannoverschen Bahnhof. Hier gibt es das Kulturzentrum schon – mit einer Dauerausstellung, die den Schlachthof als Tatort und den Bahnhof als Deportationsort thematisiert, könnte eine ganz neue Verbindung entstehen.“

Gedenken an die Deportation der Sinti und Roma: 10. 3., 15 Uhr, auf dem Vorplatz des Kulturzentrums Schlachthof, Findorffstraße 51