Hungerspiele

Weniger Zucker, weniger am Smartphone hängen, weniger das Auto nutzen: Wer einmal fastet, tut es wahrscheinlich wieder. Was bringt der Verzicht vor Ostern? Wir haben einen Arzt, eine Soziologin und eine Theologin gefragt

Interviews Michael Brake

„Es ist wie ein Druck auf die Reset-Taste“

Fasten bringt den Körper in seinen natürlichen Zustand zurück, sagt der Arzt

Foto: privat

taz am wochenende: Herr Michalsen, Fasten wird offenbar beliebter. Wie ist das passiert?

Andreas Michalsen: Noch vor 10, 15 Jahren wurde das Fasten von vielen eher belächelt; dass das irgendwie Unsinn wäre oder nur eine Tradition, immerhin gibt es Heilfasten ja schon seit über 2.000 Jahren. Doch in den letzten 20 Jahren gab es eine Fülle von Studien, die besagen, dass der Körper es wirklich sehr dankbar aufnimmt, wenn wir ihm Verdauungs- und Verarbeitungspausen geben. Inzwischen wird das Fasten auch von Schulmedizinern als ernsthafte Möglichkeit der Mitbehandlung diverser chronischer Leiden gesehen.

Welche sind das so?

Fasten hilft beispielsweise bei Bluthochdruck, Diabetes, Rheuma oder Übergewicht. Die Nachrichten über Erfolge in der Laborforschung kommen natürlich auch bei den Patienten an, gerade bei Menschen, bei denen die Schulmedizin nicht weiterkommt. Die hören was übers Heilfasten und sagen sich: Okay, das ist machbar, das probiere ich mal aus.

Welche Funktion hat Fasten für den Menschen?

Es soll dem Körper einen Zustand zurückgeben, den unsere Gene und die Natur eigentlich für ihn vorgesehen haben. Wir gehen heute davon aus, dass viele weit verbreitete Erkrankungen durch zu häufige oder zu regelmäßige Ernährung hervorgerufen werden. Unser genetisches Programm ist nämlich eher auf das Wechselspiel von „mal Hunger“ und „mal Überfluss“ ausgelegt.

Wie konkret läuft das Fasten ab?

Man muss zwei Sachen sauber voneinander trennen: zum einen das Intervallfasten, bei dem man versucht, 12 bis 16 Stunden am Stück nichts zu essen – und das jeden Tag oder 1 bis 2 Fastentage pro Woche in seinen Alltag einbaut. Und zum anderen das intensivere Heilfasten, auch periodisches Fasten genannt, das mindestens eine Woche lang gemacht wird.

Konzentrieren wir uns auf die zweite Variante.

Da gibt es verschiedene Methoden, aber die bewährteste ist die Buchinger-Saftfasten-Technik. Die ist eigentlich ganz einfach: Man nimmt weniger als 500 Kalorien am Tag zu sich. Eine Nulldiät sollte man allerdings nicht machen, denn dann baut sich zu viel Muskeleiweiß ab. Gleichzeitig sollte man nichts zum Kauen haben, denn Kauen macht Hunger. Also nimmt man eine kleine Menge Energie in flüssiger Form zu sich und damit es gesund ist, trinkt man eben Säfte. Nicht viel, nur so zweimal 100 Milliliter pro Tag, dazu mittags noch eine sehr dünne, durchgefilterte Gemüsebrühe – und gut ist.

Kann man sagen, was Fasten konkret mit dem Körper anstellt?

Es ist wie ein Druck auf die Reset-Taste. Viele der Hormone, die am Verdauungs-, am Energieverarbeitungsprozess im Körper beteiligt sind, beispielsweise Insulin, sind aufgrund unseres Lebensstils chronisch übersteuert. Beim Fasten erholen sie sich, die gesamte Regulation von Blutdruck, Blutzucker, Feststoffwechsel normalisiert sich. Ein zweiter Prozess ist die Zellreinigung …

die Entschlackung, von der man immer so viel hört?

Wir sprechen nicht von „Entschlackung“. Was tatsächlich auf der Zellebene passiert, nennt man Autophagie. Für die Forschung in diesem Bereich wurde 2016 der Medizinnobelpreis verliehen.

Autophagie ist griechisch für Selbstverzehrung. Da essen die Zellen sich also selbst auf?

Nein, das nicht. Aber in unseren Zellen ist immer auch so ein bisschen Proteinmüll; schlecht gefaltete Kopien von Eiweißen und solche Dinge. Generell versucht die Zelle, den Müll rauszuschleusen. Beim Fasten hat sie nun mehr Ruhe und die Zeit dafür, sie kann sich der Selbstreinigung widmen. Nach unseren Erkenntnissen springt die Autophagie an, wenn wir mindestens 12 bis 14 Stunden nichts essen, wie eben auch beim Intervallfasten. Und je länger wir fasten, desto stärker ist der Effekt.

Können Sie konkrete Tipps geben, wie man es mit dem Fasten richtig angeht?

Wer kann, sollte beim ersten Mal nicht alleine fasten, sondern in einer Gruppe, möglichst mit professioneller Begleitung. Ansonsten empfehle ich, einfach einen einschlägigen Ratgeber zu kaufen, da steht dann alles drin: wie die Fastensuppe gebrüht wird, welche Säfte sich eignen, wie man sich vorher mit einem abführenden Salz den Darm reinigt. Dann sucht man sich einen günstigen Termin und informiert die Familie, damit sie ein wenig Rücksicht nimmt und einem nicht mit den Pfannkuchen vor der Nase rumwirbelt. Wer Fasten als Therapie für ein Erkrankung macht, sollte allerdings immer ärztliche Begleitung suchen.

Macht Verzicht uns glücklich?

In der heutigen Zeit würde ich sagen: ja. Fasten ist eigentlich keine Askese, sondern eher eine Rückkehr zum Normalen.

Andreas Michalsen, 56, ist Internist, seit 2008 Chefarzt am Berliner Immanuel-Krankenhaus und leitet dort das Zentrum für Naturheilkunde. Er hat eine Professur für Klinische Naturheilkunde an der Charité, beschäftigt sich seit 20 Jahre medizinisch und wissenschaftlich mit dem Fasten – und hat das Buch „Heilen mit der Kraft der Natur“ geschrieben.

„Die Kontrolle über mich selbst wiedererlangen“

Fasten funktioniert nur, wenn man einen Sinn im Fasten sieht, sagt die Soziologin

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taz am wochenende: Frau Jonveaux, Fasten wird offenbar beliebter. Wie ist das passiert?

Isabelle Jonveaux: Im Prinzip fing es damit an, dass man keine Angst mehr haben musste, dass es zu wenig gibt. Das ging ungefähr in den 70er Jahren los und hat seitdem immer mehr an Bedeutung gewonnen.

Die neue Lust am Fasten ist also mit der Konsumgesellschaft gekommen?

Ja, und als Reaktion auf sie. Speziell die Idee, dass mehr Konsum nicht unbedingt mehr Glück bringt, die Idee des „Weniger ist mehr“, ist in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren immer wichtiger geworden. Fasten ist nur ein möglicher Ausdruck davon.

Fasten ist so gesehen eine Form des alternativen Konsums?

Viele der von mir übers Fasten Befragten haben gesagt, sie fasten auch, um ein kleines Zeichen gegen das Zuviel in der Gesellschaft zu setzen. Gegen das Zuviel an Konsum, das Zuviel an Essen, aber auch gegen das Zuviel an Aktivitäten, Arbeit, Tempo und so weiter. Es soll zeigen: man kann anders leben. Entschleunigen. Sich auch Zeit für sich nehmen.

Welche Funktion hat Fasten noch?

Was auch wichtig ist, etwa für Leute, die „Handyfasten“: die Idee, dass ich die Kontrolle über mich selbst wiedererlange. Ich will wieder Sachen machen, die gesund und gut für mich sind. Dafür muss ich auch erkennen, was ich eigentlich wirklich brauche und was nicht. Eine weitere Motivation ist, selber etwas für die Umwelt zu tun, etwa, wenn man auf Fleisch verzichtet. Menschen, die fasten, machen das auch oft in der Natur. Sie fahren aufs Land oder gehen wandern, damit sie die Verbindung mit der Natur wiederfinden.

Was macht das Fasten mit uns?

Es ist schon eine Reinigung. Also nicht nur des Körpers, sondern von Körper, Geist und Seele. Ein Ergebnis meiner Forschungen war, dass Fasten besonders Leute betrifft, die Schicksalsschläge hinter sich haben, zum Beispiel eine Scheidung, einen Todesfall in der Familie oder Krankheiten. Sie wollen sich selbst von etwas reinigen und einen neuen Anfang nehmen.

Bringt Fasten denn den erwünschten Effekt?

Ja. Von den Leuten, die ich für meine Arbeit befragt habe, sind die meisten wirklich zufrieden damit. Ein Zeichen dafür ist die Wiederholungsrate: Wer einmal fastet, macht es oft über viele Jahre immer wieder.

Verzicht macht also glücklich?

Ja, schon. Es macht auch glücklich, wenn ich den Eindruck habe: Ich habe etwas geleistet. Wenn ich es schaffe, 40 Tage nicht auf Facebook zu gehen, fühle ich mich gut, weil ich zufrieden mit mir selbst sein kann.

Was halten Sie von der Idee: Ich mache etwas nicht, damit ich es danach wieder mehr genießen kann?

Das stimmt für bestimmte Bereiche, zum Beispiel beim Geschmack. Wenn Leute so richtig Lebensmittelfasten und anschließend wieder essen dürfen, ist das Vergnügen in diesem Moment noch größer. Es gibt aber auch den umgekehrten Effekt. Beispielsweise habe ich auch das „Autofasten“ untersucht. Da merken viele Leute: Sie brauchen es eigentlich gar nicht, jeden Tag mit dem Auto zu fahren. Und lassen es auch danach.

Können Sie konkrete Tipps geben, wie man es mit dem Fasten richtig angeht?

Ich habe beobachtet, dass es den Leute oft leichter fällt, in einer Gruppe zu fasten. Dann können sie gemeinsam darüber reden und fühlen sich unterstützt. Alleine ist es schwieriger, vor allem, wenn es das erste Mal ist, und alle Leute einen fragen: Warum machst du das? Warum kommst du nicht mit uns was trinken? Warum gehst du nicht ans Handy?

Eine organisierte Fastenwoche kann allerdings teuer sein.

Es gibt auch andere Möglichkeiten, zum Beispiel „ambulantes Fasten“, wo man sich nur am Abend mit einer professionellen Begleitung trifft. Oder das Fasten mit einer Freundin oder einer Freundesgruppe. Es gibt auch viele Leute, die sich Unterstützung in Online-Netzwerken suchen, in speziellen Facebook-Gruppen beispielsweise. Dort können sie sich mitteilen, wenn es ihnen beim Fasten schlecht geht oder wenn sie nicht mehr motiviert sind – und Gleichgesinnte antworten ihnen.

Was wäre umgekehrt die falsche Herangehensweise?

Es funktioniert nur, wenn ich selbst entscheide, dass ich fasten will. Und wenn ich für mich weiß, warum ich das mache. Wenn das Fasten keinen Sinn für mich ergibt, dann werde ich es vermutlich auch nicht durchhalten.

Isabelle Jonveaux, 34, ist promovierte Soziologin mit den Schwerpunkten Religions- und Wirtschaftssoziologie und arbeitet an der Universität Graz. Von Forschungen über die klösterliche Askese kam Jonveaux zu neuen Formen des Fastens, worüber sie auch ihre Habilitation geschrieben hat.