Mit Fingerspitzengefühl

Flüchtlingskrise. Ehekrise. Klimakrise.In Norbert Gstreins neuem Roman, „Die kommenden Jahre“, gleiten wir durch all diese tonnenschweren Krisen –und das ist herrlich befreiend

Norbert Gstrein fuchtelt keineswegs mit dem Zeigefinger herum, sondern verlässt sich auf seine Sprache. Und er sitzt – wie seine Figuren – offenbar gerne an einem See Foto: Peter Peitsch

Von Carsten Otte

Richard ist Gletscherwissenschaftler, und seine Aufgabe besteht darin, der Welt zu erklären, warum das ewige Eis auf der Erde verschwindet und mit welcher Geschwindigkeit diese Prozesse verlaufen. Er hat also viel zu tun, ist ständig auf Kongressen oder eben in der Natur unterwegs, um zu beobachten, wie sich die Erwärmung des Klimas auf jene Orte auswirkt, die eigentlich kalt sein sollten. Oft arbeitet Richard mit Tim zusammen, der gerade einen akademischen Ruf nach St. John’s in Neufundland erhalten hat und nun seinen Tiroler Freund zu überreden versucht, ebenfalls nach Kanada auszuwandern. Doch Richard lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Natascha, in Hamburg, und obwohl er an dem Sinn der Ehe zweifelt, will er sie nicht auf­geben.

Nicht einmal Tims Ressentiments gegenüber den Deutschen überzeugen Richard. „Du musst nur einmal laut Deutschland sagen und weißt Bescheid. Kann man danach Sehnsucht haben?“ Solche Bemerkungen hält Richard, der weiß, dass es „mit den Österreichern kaum einfacher sei“, schlichtweg für „irrlichternd“. Ein Land ist keine Gewähr für das ersehnte Glück.

Es ist sehr unterhaltsam, wie Norbert Gstrein schon auf den ersten Seiten seines neuen Romans „Die kommenden Jahre“ mit Vorurteilen spielt, und der Autor wird im Verlauf der Geschichte noch weitere Klischees bemühen, um sie dann mit herrlichen Satzschlangen zu erledigen. Während Richard noch über einen Neuanfang sinniert, allerdings nicht in Neufundland, sondern eher in wärmeren Gefilden mit seiner Geliebten Idea, hat seine Gattin Natascha längst ein Projekt begonnen, das nicht nur ihr Leben grundlegend verändern wird. In einem nahegelegenen Städtchen, irgendwo in der ostdeutschen Provinz, besitzt das Paar nämlich ein Ferienhaus, das Natascha einer Flüchtlingsfamilie aus Damaskus zur Verfügung stellt. Obwohl das Asylverfahren noch läuft, zieht Familie Farhi in das – so nennen die Städter ihr Refugium – Sommerhaus am See.

Es kommt natürlich, wie es kommen muss: Die Syrer werden angefeindet, es machen schnell Gerüchte die Runde, der Mann sei in seiner Heimat nicht Bauingenieur, sondern ein Scherge des Assad-Systems gewesen, bis man ihn abserviert habe und die Familie flüchten musste. Die Nachbarn scheinen das Sommerhaus zu observieren, nachts nähern sich dunkle Gestalten mit Fackeln, es ist eine gespenstische und zugleich sehr realistische Szenerie. Der traurige Witz vom Klischee Dunkeldeutschlands – das weiß der wie seine Hauptfigur in Hamburg lebende Gstrein – besteht leider zuweilen darin, dass manche Regionen im Osten noch viel dunkler sind, als man sich das im gepflegten Westen vorstellen kann.

Tatsächlich werden die beiden Söhne der Farhis entführt, und die dramatische Suche nach den Kindern gibt dem Text wiederum einen doppelten Spannungsbogen. Denn nicht nur die Fahndung, auch das Austauschen von Verdächtigungen und der Kampf um Anerkennung treiben die Geschichte voran. Dabei handelt es sich keineswegs um einen Flüchtlingsroman, der Leidensgeschichten summiert, die mittlerweile oft und durchaus mit Berechtigung erzählt werden, Gstrein präsentiert vielmehr ein Migrationsdrama 2.0. Der Fokus liegt nicht auf den Flüchtlingen, sondern auf der Frage, wer in dem Überlebensdurcheinander was aus welchen Motiven unternimmt und wie diese Handlungen medial wahrgenommen werden. So kommt es dann auch zu einigen reißerischen Berichten im Fernsehen und einer Zeitungsüberschrift, die einen Perspektivwechsel vornimmt: „Syrische Flüchtlingsfamilie hilft bekannter Schriftstellerin über den Verlust der geliebten Schwester hinweg.“

Wer hilft hier wem? Wer ist Opfer und wer Täter? Als wäre das so leicht zu bestimmen. Fest steht, wie befinden uns in einer geschlossenen Gesellschaft, wie sie Jean-Paul Sartre in seinem berühmten Theaterstück beschrieben hat und in der gilt: „Die Hölle, das sind die anderen.“

Die Motive in diesem Roman sind bis ins kleinste Detail durchkomponiert. Oft arbeitet Gstrein mit bildstarken Gegensatzpaaren. Während Richard dem eintönigen Alltag entfliehen möchte, weil er sich fremd im eigenen Leben fühlt, sucht das Ehepaar Farhi in der Fremde jene Langeweile am See, die sie in Syrien wohl derzeit nicht finden werden. Richard fühlt sich wohl in der Eiseskälte der Natur, wünscht sich aber mehr Wärme im Zwischenmenschlichen. Die Farhis wiederum kommen aus einer warmen Klimazone und haben es plötzlich mit eiskalten Reaktionen der rassistischen Nachbarn in Deutschland zu tun.

Besonders gut gelingt ­Gstreins antipodische Gedankenprosa, wenn es um das Ausloten von geografischer und emotionaler Nähe und Ferne geht. Richard erfährt von den Anfeindungen und Übergriffen, welche die Farhis erdulden müssen, oft in Telefongesprächen und Skype-Konferenzen mit Natascha. Die Eheleute sind sich uneins, wie die Vorfälle zu bewerten sind, und so verstärkt nicht zuletzt die räumliche Entfernung die emotionale Distanz des Paars. Manchmal packt Gstrein einen Motivreigen in einen einzigen Wirbelsatz, wenn er beispielsweise Richards inniges, aber keineswegs intimes Verhältnis zu Nataschas Zwillingsschwester erzählt: „Bei der Hochzeit hatte ich mit Katja getanzt und im Spaß gesagt, wir könnten jetzt noch fliehen und nach Kanada gehen, weil Tim mir das schon damals als Möglichkeit in den Kopf gesetzt hatte, und dann ihre Antwort, die ich mir genauso spaßhaft erwartet hatte, nicht mehr vergessen, es sei doch alles gut, wenn wir keinen Anfang hätten, müssen wir auch um kein Ende bangen.“ Tatsächlich haben sich Katja und Richard im besagten Sommerhaus oft getroffen, nicht um eine Affäre zu beginnen, sondern um Gespräche zu führen, die ihm „mit Natascha immer weniger gelangen“.

Wer ist Opfer und wer Täter? Als wäre das so leicht zu sagen! Sartre fällt einem ein: „Die Hölle, das sind die anderen“

Eine große Stärke dieses Autors ist sein literarisches Fingerspitzengefühl für die Feinheiten, die nicht auserzählt werden oder sich erst später erschließen. Der Text befindet sich damit in einem fortwährenden Schwebezustand, auch wenn das Thema tonnenschwer ist. Ehekrise, Flüchtlingskrise und Klimakrise. Bei Norbert ­Gstrein gleiten wir durch all diese Krisen, und das ist herrlich befreiend, weil hier niemand mit dem politisch-moralischen Zeigefinger herumfuchtelt, sondern sich ganz auf seine Sprache verlässt. Hilfreich für dieses literarische Programm ist die clevere auktoriale Ausarbeitung seiner Ich-Erzählung. Die Geschichte wird zwar aus Richards Perspektive vorgetragen, aber im Hintergrund wirkt ein Erzählergott, der uns keineswegs mit vorgefertigten Doktrinen zurechtweist.

Höhe- und Schlusspunkt dieses Sprachspiels sind am Ende des Romans zwei dreizehnte Kapitel und noch ein weiteres, das mit „Was wirklich geschah“ überschrieben ist. Die Schlusskapitel-Trias beginnt mit einem „Ende für Literaturliebhaber“, das allerdings nicht „literarischer“ ist als die anderen beiden Varianten.

Plausibel erscheinen alle Schlüsse, und damit wird der Leser wieder mit den existenziellen und existenzphilosophischen Grundfragen dieses so eindringlichen Romans konfrontiert: Was tun in den kommenden Jahren? Ein neues Leben in der Ferne beginnen, sich im Job verausgaben oder doch noch einmal neu anfangen in der alten Ehe, die vielleicht doch nicht so schlecht ist? Es scheint, als liefe der gesamte Roman auf diese Entscheidungssituation hinaus. Optionen gibt es viele in der Multioptionsgesellschaft. Aber für welche Möglichkeit entscheiden wir uns? Und werden wir das Gefühl, selbst in vertrauten Gefilden ein Fremder zu sein, überhaupt jemals los?

Man wird bei der Lektüre tatsächlich oft an Sartre erinnert, vor allem an dessen Essay „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“. Am Ende ist der Mensch die Summe seiner Handlungen. Alles Gerede, alle Ratschläge und Ideologien verpuffen, und selbst wenn wir nicht entscheiden, dieses oder jenes zu tun, haben wir einen Weg gewählt. Von der Einsicht in diese Notwendigkeit erzählt Gstrein in seinem neuem Roman elegant. Ein intellektuell und sprachlich überzeugender Text, den man Zweiflern gerne heimlich in die Tasche stecken möchte.

Norbert Gstrein: „Die kommenden Jahre“. Hanser, München 2018, 285 Seiten, 22 Euro