„Das erste Mal ein Bild zu entwickeln, ist ein magischer Augenblick“

DIE RESTAURATORIN Gisela Harich mistete gerade den Schweinestall aus, als sie als Jugendliche erstmals von Fotografie hörte. Der Arbeit mit Bildern widmete sie ihr Leben: Als Kameraassistentin war sie dabei, als in der DDR das Farbfernsehen ausprobiert wurde. Und entschied sich schließlich, Fotos zu restaurieren. Heute ist Harich selbstständig – und reist auch mal nach Thailand, um das Antlitz toter Könige wiederherzurichten

■ Ihr Werdegang: Gisela Harich, geboren 1949, lernte in der DDR der sechziger Jahre Fotografie, arbeitete beim Fernsehen, in einem Verlag, in einem eigenen Fotoladen und am Deutschen Theater. 1992 wurde sie arbeitslos. Als ABM beim Heimatmuseum Köpenick beschloss sie, noch einmal zu studieren: Fotorestauration.

■ Ihr Beruf: Seitdem restaurierte Gisela Harich Fotos in Berlin und München, den USA, in Ägypten, Ghana, England und Thailand. Im vergangenen Jahr gründete sie das Restaurierungszentrum, an dem sie ihre Beispielsammlung aufbaut und ihr Wissen vermittelt. Sie ist Lehrbeauftragte an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, wo sie Studenten der Museologie die Identifizierung fotografischer Techniken lehrt. Gerade hat sie einen Restaurierungsworkshop in Goa zugesagt.

■ Mehr Informationen: Restaurierungszentrum für Fotografie, Rungestraße 22–24, 10179 Berlin. Gisela Harich schreibt auch ein Blog: fotorestaurierung.tumblr.com/.

INTERVIEW SUSANNE MESSMER
FOTOS STEFAN BONESS

taz: Frau Harich, warum restaurieren Sie Fotos?

Gisela Harich: Wir haben es bei der analogen Fotografie mit 170 Jahren Kulturgeschichte zu tun. Sie ist vergänglich, wird aber oft nicht hoch genug geschätzt und schlecht gepflegt.

Was genau tun Sie, wenn Sie ein Bild restaurieren?

Oft ist es nur Prävention. Man sichert die Sachen so, dass nicht noch mehr kaputtgeht. Man reinigt sie, schließt Risse, entfernt Klebstoffe, und am Ende muss man sie luftig verpacken und dafür sorgen, dass sie an einem trockenen, kühlen Ort aufbewahrt werden.

Mit welchen Fotos waren Sie zuletzt befasst?

Im Augenblick restauriere ich ein Foto von Helene Weigel, das stammt von Liselotte Strelow. Da ist ein großes Loch drin. Man muss viele Schichten auftragen und immer wieder trocknen lassen, das ist sehr aufwändig. Ein Großprojekt, an dem ich schon seit Jahren arbeite, sind die Bilder von Willy Römer, dem bekannten Berliner Fotografen. Es handelt sich um 80.000 Papierabzüge und etwa 50.000 Glas- und Kunststoffnegative.

Warum kann man die Bilder nicht einfach digitalisieren?

Wenn man diese Bilder digitalisiert, verlieren sie einen großen Teil ihrer Informationen. Bei Willy Römer sehe ich zum Beispiel Phasen, wo er nur mit Mimosa-Negativmaterial gearbeitet hat. Danach kam eine Phase mit französischem Material. Und da muss man doch fragen, warum dieser Wechsel kam – und was das für die Qualität seiner Negative bedeutet hat.

Seit wann interessieren Sie sich für Fotorestaurierungen?

Das ist eine lange Geschichte.

Nur zu.

Es begann an einem Sommertag in Mecklenburg. An diesem Tag kam ein Versicherungsvertreter zu meinem Vater und unterhielt sich mit ihm über seinen Sohn, der Fotografie studierte. Ich war damals zwölf Jahre alt und mistete gerade den Schweinestall aus. Und da stand ich dann auf meine Forke gelehnt und sagte nur: „Oh. Das möchte ich auch machen.“ Und er sagte: „Du? Dazu braucht man sensible Hände!“

Was passierte dann?

Ich ging beim Fotografen in unserer Stadt in die Lehre. Ich erinnere mich an den magischen Augenblick, wenn man zum ersten Mal sieht, wie ein weißes Blatt Papier in eine Flüssigkeit gelegt wird und sich ein Bild entwickelt. Dieser Augenblick hat auch mich erwischt. Aber ich durfte bei diesem Fotografen nie ins Atelier, also wollte ich nach der Lehre weg. 1970 ging ich nach Berlin.

Was machten Sie dort?

Ich wurde Kameraassistentin beim Fernsehen. Ich war dabei, als das Farbfernsehen ausprobiert wurde. Ich fuhr mit meinem Chef im ganzen Land herum, um die verschiedenen Filmsorten zu testen. Oft genug musste ich Modell sitzen – mal im grünen Kleid, mal im blauen Kleid. Wir testeten, wie die Farben kommen. Später wechselte ich in die Fotografieabteilung, arbeitete wieder in der Dunkelkammer, in der Mikrotechnik, in der Repro, auch beim aktuellen Dienst.

Aber lassen Sie mich raten: Sie blieben nicht lange?

Stimmt. Ich hatte inzwischen geheiratet und zwei Kinder bekommen. Der Weg zum Sender nach Adlershof wurde mir zu weit. Also wechselte ich zum Bauernverlag, denn der war gegenüber von unserer Kinderkrippe. Dort arbeitete ich als Positivretuscheurin. So hatte ich viel Einblick in Tiefdruck, Hochdruck und Offsetdruck. Dieses Wissen ist alles Goldstaub für meine Arbeit heute. Ich kann aufgrund dieser Erfahrungen sehr viel erkennen.

Warum ist das Erkennen so wichtig?

Die Identifizierung fotografischer Prozesse ist mein Spezialgebiet. Um etwas restaurieren zu können, muss man wissen, wie es entstanden ist. Man muss erkennen, woraus es besteht: Gelatine, Albumin – ein frühes Kopierpapier. Oder Kollodium – ein früher Kunststoff. Und diese Dinge erkenne ich aufgrund meines bunten Berufslebens sehr schnell.

Wie ging es weiter mit diesem Berufsleben?

1979 übernahm ich einen kleinen Krautladen in der heutigen Torstraße, ein winziges Atelier, wo man klappern musste, damit die Ratten verschwanden. Heute ist da ein Sushi-Laden drin. Aber ich konnte dort kaum arbeiten, weil immer die Nachbarn zum Schwatzen kamen. Nach drei Jahren ging mir die Luft aus, ich sah eine Anzeige des Deutschen Theaters in der Zeitung und – wupps – war ich dort.

Es muss sehr aufregend gewesen sein, in den Jahren vor der Wende am Deutschen Theater zu arbeiten.

Ich war an einer der wichtigsten Quellen des Umbruchs. Ein wunderbarer Ort. Ich musste zwar wieder in die Dunkelkammer, bekam aber sofort auch Gelegenheit, selbst zu fotografieren, zum Beispiel die Proben. Ich habe alle kennengelernt: Inge Keller, Eberhard Esche, Dieter Mann. Ich lernte ungeheuer viel. Zum Beispiel Körpersprache: Das war mir zu Hause verboten worden. In meinem evangelischen Elternhaus gab es gar keinen Unterleib. Es war eine Wahnsinnszeit, in der ich auch meinen dritten Mann kennenlernte, Michael Hamburger, der damals Dramaturg beim Deutschen Theater war.

Was ist mit Ihren Fotos aus dem Deutschen Theater geschehen?

Ich habe sie nie veröffentlicht, denke aber, dass sie mir heute eine finanzielle Basis liefern könnten. Ich habe um die Wende herum auch viele andere Fotos gemacht, die sich heute vielleicht gut verkaufen lassen würden. Die letzte Maidemonstration. Oder der 4. November 1989, da fotografierte ich mit einer russischen Lomo einfach blind über die Köpfe.

Jetzt haben Sie immer noch nicht erzählt, wie Sie auf die Restaurierung gekommen sind.

1992 bekam ich meine Kündigung beim Deutschen Theater. Da bin ich erst mal innerlich abgestürzt. Aber dann machte ich eine Computerschulung und bekam wenig später eine ABM-Stelle im Heimatmuseum Köpenick. Da wurde ich zu einem Treffen der Fachgruppe der Museen geschickt, sie hatten sonst niemanden. Und dort schrien sie plötzlich alle, dass sie Fotorestauratoren brauchen. Es war für mich eine Entscheidung von Sekunden. Ich hatte genug fotografiert. Jetzt wollte ich restaurieren.

Wie sind Sie es angegangen?

Zuerst wollte ich ein Praktikum machen, fand aber in Deutschland gar keine Fotorestauratoren. In Berlin hatte gerade ein Studiengang aufgemacht. Ich hatte an so etwas überhaupt nicht mehr gedacht. Ich war ja schon fünfundvierzig. Aber dann warf ich alles Sicherheitsdenken über den Haufen, denn ich wollte das wirklich sehr.

Ihre Kinder waren inzwischen erwachsen genug?

Überhaupt nicht. Mein Sohn hatte mit Ach und Krach das Abi bestanden, er interessierte sich eher für Kreuzberg als fürs Studium. Und meine Tochter eröffnete mir als 17-Jährige, dass sie das Abitur schmeißen, dass sie heiraten und mit ihrem Mann nach Amerika gehen wird. Den Kindern musste ich mich schon widmen, das war hart.

Sie studierten trotzdem. Hat es Ihnen gefallen?

Der Studiengang war erst im Aufbau. Es gab also noch keine Fotografien, an denen man lernen konnte. Deshalb bin ich bald zum Internationalen Museum für Fotografie in Rochester in den USA. Ich konnte damals noch sehr wenig Englisch. Die Vorlesungen machte ich eher im Blindflug. Aber ich ging zweimal in der Woche ins Archiv, um einfach Fotos zu sehen. Zum Beispiel das erste mit Fotografien illustrierte Buch der Welt, „The Pencil of Nature“, mit Salzpapierbildern von William Henry Fox Talbot. Das konnte man sich da einfach bringen lassen und mit weißen Handschuhen und Buchkeil anfassen.

Was war das Wichtigste, was Sie aus Rochester mitnahmen?

Ich habe dort gelernt, was man als Restaurator wissen muss – nicht nur, wie man an Bildern herumkratzt. Wir mussten uns mit der Geschichte der Fotos beschäftigen, in Auktionshäusern anrufen und nach bestimmten Bildern fragen. Wir lernten, wie man sich vernetzt. Und wie man sich selbst Dinge beibringt. Ich war aus der DDR gewohnt, dass man mir immer sagt, was ich tun soll. Das war dort ganz anders. Ich hatte Panik, fühlte mich verloren. Und dann lernte ich, Fragen zu stellen und bekam alle Hilfe der Welt.

Und wie war es, als Sie wieder in Deutschland waren?

Ich hatte gelernt, den Mund aufzumachen. 2000 schloss ich das Studium ab, eröffnete meine Werkstatt und bewarb mich auf eine Mutterschaftsvertretung im Fotomuseum München. Ich wurde eingestellt. Dort habe ich dann drei Jahre lang in der Restaurierung und Ausstellungsvorbereitung gearbeitet. Ich durfte Katalogbeiträge schreiben. Ich hatte aufregende Aufträge in Ägypten und in Ghana. Dann ging ich fast zwei Jahre ans Stadtmuseum nach Bristol, um endlich in Ruhe Englisch zu lernen. Meine Ehe ging auseinander. Diese Zeit war ein einziger Befreiungsschlag. Ich lernte, ganz ich selbst zu sein.

Und trotzdem sind Sie doch immer wieder zurück nach Berlin gekommen. Warum?

Der Preußische Kulturbesitz hatte in der Kunstbibliothek eine halbe Stelle ausgeschrieben, die ich tatsächlich bekam. Das war der Ort, für den ich studiert hatte, zu dem ich immer wollte. Denn die haben eine wunderbare Beispielsammlung. Der Aufbau des Museums für Fotografie stand bevor. Und meine erste große Amtshandlung war die Begleitung der Überführung der Sammlung Willy Römer in die Bibliothek. Aber wie das in Deutschland heute ist: Es werden keine festen Stellen mehr vergeben. Bei der dritten Verlängerung machte die Verwaltung nicht mehr mit und – wupps – war ich wieder raus. Das war im Februar 2011.

„Ich muss nicht reich werden, will aber ohne Armut mein Leben fristen“

Das scheint Sie nicht besonders schockiert zu haben.

Bei meiner Erwerbsbiografie? Ich bin eigentlich sogar ganz froh, dass ich aussortiert worden bin, denn von mir aus wäre ich nicht gegangen. Ich bin jetzt 63 und könnte nach landläufiger Ansicht keine großen Brötchen mehr backen. Ich hätte genug Grund zur Angst. Nachdenken und Krankwerden habe ich mir verboten, denn ich kann mir keine Krankenversicherung leisten, die mir im Ernstfall irgendwas bezahlen würde. Trotzdem bin ich gern selbstständig.

Sie haben das Restaurierungszentrum gegründet. Was machen Sie da genau?

Ich baue meine Lehr- und Beispielsammlung aus, an der ich alles zeigen kann: Die Entstehung, Schäden, die Fehler der Lagerung, einfach alles. Meine Praktikanten müssen den Zustand der Sammlung verbessern, sie sollen Verpackungen basteln und so weiter. Ich will vermitteln, wen und was man als Restaurator kennen muss. Ich suche außerdem nach Förderern.

Woher schöpfen Sie die Kraft?

Aus Projekten wie diesen: Im letzten Jahr sind wir zweimal nach Thailand geflogen, um zwei überlebensgroße Fotografien des Königs Chulalongkorn und seines Sohns Vajiravudh zu restaurieren. Diese Porträts hängen anstelle der sonst oft üblichen Statue in großen, schweren Rahmen im Foyer der Chulalongkorn-Universität. Könige haben in Thailand Heiligenstatus, die Studenten bitten vor diesen Fotografien um gute Noten.

Und Sie durften diese Fotos trotzdem berühren?

Es gab eine Zeremonie mit großem Gabentisch mit den schönsten Früchten und Blumen. Ein brahmanischer Priester führte ein Gespräch mit den toten Königen und erklärte ihnen, was hier passieren wird. Dann durften die Fotos abgenommen und mit dem Gesicht nach unten auf einen Tisch gelegt werden. Einmal besuchte uns während der Arbeiten sogar Prinzessin Sirindhorn.

Und als Sie fertig waren?

Nach vier Wochen fand die Zeremonie noch einmal rückwärts statt, und der Brahmane verlangte, dass wir bar bezahlt werden. So schnell bin ich noch nie bezahlt worden. Diese Geschichte ist für mich noch nicht abgehakt. Ich denke, ich muss noch einmal nach Thailand. Aber im Moment fehlt mir für solche Sachen einfach das Geld.

Die finanzielle Unsicherheit macht Ihnen überhaupt nichts aus?

Ich bin wieder mal bei mir selbst angekommen. Früher habe ich immer gedacht, ich müsste im Alter weiterarbeiten, weil meine DDR-Rente nicht reicht. Die liegt bei unter 700 Euro. Inzwischen denke ich, dass ich gar nicht aufhören will, zu arbeiten. Ich muss nicht reich werden, will aber ohne Armut mein Leben fristen und an Kultur teilnehmen können, ab und zu mal essen, in die Sauna gehen oder verreisen. Ich bin überzeugt, dass das gut möglich ist. Ich bekomme derzeit Gründercoaching, lerne viel über Marketing, Selbstpräsentation, Büroorganisation.

Wovon träumen Sie?

Mein größter Traum wäre eine Werkstatt mit hundert Quadratmetern inklusive kleiner Wohnküche und Schlafplatz, wo ich leben, fotografieren, restaurieren, Bücher schreiben und Wissen weitergeben kann. Dann hätte ich alles bei mir, was wichtig ist. Mein Leben würde blühen.