Prozess um ermordeten Rentner in Berlin: Zehn Jahre in der Tiefkühltruhe

Als Heinz N. in seiner Wohnung gefunden wird, liegt er da schon zehn Jahre – ermordet. Wie kann ein Mensch einfach so verschwinden?

Eine Hausfront mit der Nummer 18

Berlin, Prenzlauer Berg, Hosemannstr. 18. Hier wohnte Heinz N., das Opfer Foto: Christian Thiel

BERLIN taz | Er wurde Joschi genannt. Die Menschen im Viertel kannten ihn vom Sehen, manche hatten auch direkt mit ihm zu tun. Den Joschi konnte man anrufen, wenn es in der Wohnung etwas auszubessern gab, wenn ein paar Fliesen verlegt werden mussten, ein Klo verstopft war. Man sah ihn oft im Blaumann vor seinem Trödelladen oder im nahen Kiosk sitzen. Immer freundlich, immer für ein Schwätzchen zu haben.

Auch der Rentner Heinz N. wird in Josef S. den netten, hilfsbereiten Nachbarn gesehen haben, der eine Zeit lang in der Wohnung gegenüber gewohnt hatte. Als Liesel noch lebte, die Frau von Heinz N., hat das Rentnerpaar Josef S. und seiner Lebensgefährtin ein Gartengrundstück draußen in Brandenburg überlassen – zu einem Freundschaftspreis.

Für die kinderlosen N.s seien Josef S. und seine Lebensgefährtin wie Ersatzkinder gewesen, erinnert sich später ein Bekannter. Nach dem Tod seiner Frau lebte Heinz N. allein in seiner Wohnung.

Irgendwann rund um Silvester 2006 soll Josef S., der nette Mann von gegenüber, Heinz N. mit einem Kopfschuss getötet haben. Zumindest spricht vieles dafür. Das Projektil trat über der rechten Augenbraue des Rentners ein und blieb im Schädel stecken. N. muss sofort tot gewesen sein. Wenig später wurde seine Leiche zerteilt, in vier rosafarbene Plastiktüten verpackt und in eine Tiefkühltruhe gelegt, die am 30. Dezember 2006 geliefert wurde.

Die Leichenteile blieben dort zehn Jahre liegen, eingefroren in den Tüten, obendrauf ein paar Quarkbecher – „Früchtetraum“, „Vanilletraum“ – und Exquisa-Käse in Scheiben.

Zehn Jahre, in denen Josef S. von der Rente des Toten gelebt haben soll, jeden Monat um die 2.000 Euro.

Die Tatwaffe fehlt bis heute

Seit Oktober 2017 wird Josef S. immer wieder dienstags und freitags um 9.15 Uhr in einen holzvertäfelten Saal des Berliner Landgerichts in Moabit geführt. Die 40. Große Strafkammer muss ein Urteil in diesem Fall sprechen. S. ist des Mordes angeklagt, heimtückisch ausgeführt, ihm wird außerdem Raub vorgeworfen, Urkundenfälschung und unerlaubter Waffenbesitz. Wobei unter den Waffen, die in seiner Wohnung gefunden wurden, nicht die Tatwaffe war. Die fehlt bis heute. Vor Gericht schweigt S. zu den Vorwürfen.

Die Gegend, in der Heinz N. und Josef S. lebten, ist eine kleine, überschaubare Welt in Berlin – dort, wo der Prenzlauer Berg in den Bezirk Weißensee übergeht. Nicht der Prenzlauer Berg, in dem sich sorgfältig sanierte Gründerzeithäuser aneinanderreihen, oben drin junge Familien, unten Cafés, sondern ein Randgebiet des Viertels, wo die Häuser niedriger werden, blasse Dreigeschosser, Handwerksbetriebe in den Hinterhöfen. Kein angesagtes Wohnviertel, aber auch kein schlechtes.

In der Großstadt wollen viele nur eins: in Ruhe gelassen werden

Dieses Viertel wird nun als Folie genommen, um die Anonymität der Großstädte zu beklagen, die Vereinsamung älterer Menschen. Berichte über das Verschwinden des Rentners N. fallen zusammen mit einer Debatte über Einsamkeit.

Es kann doch im engmaschigen Netz unserer Städte, in einem Land, das jedem Neugeborenen innerhalb von drei Monaten eine Steuer-Identifikationsnummer zuweist, niemand einfach so verschwinden – und auch noch für so eine lange Zeit. Zehn Jahre.

Andererseits kann man sich selbst mal fragen, wie lange es dauert, bis es einem auffällt, dass man eine Nachbarin länger nicht gesehen hat. Und wann man etwas unternehmen würde, wann man nach einem Menschen außerhalb des engeren Bekanntenkreises zu suchen beginnen würde.

Es gab einen Nachbarn, der ihn vermisste

Und es war in diesem Fall auch nicht so, dass es gar niemandem aufgefallen wäre, dass Herr N. irgendwann nicht mehr auf seinem Balkon im Hochparterre saß. Es gab einen Nachbarn, der ihn vermisste. Aber der ging dem Verschwinden mit einer Vehemenz nach, die auf seine Mitmenschen befremdlich wirkte, fast pathologisch.

Dirk B. heißt dieser Nachbar, 55 Jahre alt, gelernter Bürokaufmann, Hundehalter, arbeitslos. Er bewohnt die Wohnung über N. Immer wieder hat er wegen des verschwundenen Nachbarn die Polizei angerufen. Irgendwann hat er, wie er während einer Pause auf dem Gerichtsflur erzählt, „fast täglich“ die Wohnungsbaugenossenschaft angeschrieben. Er ist sogar ins Rote Rathaus gegangen, den Sitz des Regierenden Bürgermeisters, weil er dachte, dort werde man bestimmt etwas unternehmen.

Heinz N., Jahrgang 1926, lebte seit 1952 in der Hosemannstraße 18. Bis zur Rente war er Ingenieur in Oberschöneweide gewesen, zu DDR-Zeiten der wichtigste Berliner Industrie­standort. Sonst ist wenig über ihn bekannt, manches erzählt seine Hausärztin vor Gericht. N. kam selten zu ihr, nur mal zum Impfen, das letzte Mal im November 2006. Ein großer, stattlicher Mann, „immer sehr beherrscht, er wusste genau, was er wollte“.

Eine Topfblume kaufen? Unnötig

Das Ehepaar habe ziemlich allein gelebt, hatte kaum Kontakt zu Nachbarn. Liesel N., so erzählt es die Ärztin,­ habe gesagt, ihr Mann „wünsche das nicht“. Finanziell ging es ihnen nicht schlecht, aber das Geld hielt Heinz N. zusammen. Selbst eine Topfblume durfte Liesel N. nicht kaufen; unnötig, fand ihr Mann.

Im März 2006 stirbt Liesel N. an einem Tumor. Ein Dreivierteljahr später verschwindet Heinz N.

Schon kurz nachdem Dirk B. den Nachbarn das letzte Mal gesehen hat, schreibt er Briefe an ihn. B. findet, es stinke aus N.s Wohnung – muffig, modrig. Nur riecht das außer B. niemand. Er beschwert sich bei der Hausverwaltung, ruft die Polizei an, droht mit einem Anwalt. Und wundert sich über das Verschwinden von N. „Der war weg“, sagt B. vor Gericht.

So einer wie B. wird schnell abgestempelt als irgendwie irre, als jemand mit einer seltsamen Fixierung, als Unruhestifter. Aber vielleicht muss man so sein, um Dinge wahrzunehmen, die sonst niemand wahrnimmt.

Endlich hört ihm jemand zu

Dirk B. erzählt seine Geschichte schon am ersten Prozesstag vor dem Gerichtssaal. Er erzählt sie wieder und wieder, und als er, wie immer in einem Fluss redend, im Saal seine Zeugenaussage macht, erzählt er alles noch mal. Endlich hört ihm jemand zu. In all den Jahren zuvor war er ja immer wieder abgespeist worden. Der Herr N. sei doch erwachsen, der könne machen, was er wolle.

B. könnte der Held in diesem Fall sein. Zwar hätte er den Mord nicht verhindert, aber hätte man früher auf ihn gehört, wäre die andere Straftat – das Leben eines anderen anzunehmen, um die Rentenversiche­rung zu betrügen – früher aufgedeckt worden.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Aber B. taugt nicht richtig zum Helden. Eher ist er einer,­ den man lieber nicht zum Nachbarn hätte. Ein Polizist erzählt vor Gericht, B. sei „wie eine Art Hilfspolizist“ aufgetreten, habe mal jemanden aus dem Haus angezeigt, weil der eine Flasche im Kellerflur stehen ließ.

Ein anderer Nachbar erzählt, B. suche mit jedem im Haus Streit. Wahrscheinlich habe er Heinz N. nur vermisst, weil ihm durch sein Verschwinden nun einer im Sechs-Parteien-Haus fehlte, mit dem er sich habe streiten können.

Die Reserviertheit des Großstädters

In all den Jahren bricht B. immer wieder die unausgesprochene Übereinkunft städtischen Lebens, die anderen in Ruhe zu lassen. Der Soziologe Georg Simmel hat Anfang des 20. Jahrhunderts im schnell wachsenden Berlin darüber nachgedacht, wie das Leben in der Großstadt die Menschen verändert. Und er hat gerade die Reserviertheit zum Grundprinzip des städtischen Miteinanders erklärt.

Der Großstädter komme jeden Tag mit so vielen Menschen in Berührung, er würde sich „innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische Verfassung geraten“, wenn er sich diesen Fremden mit derselben Intensität zuwenden würde, wie das in der Kleinstadt oder auf dem Dorf der Fall sein mag, schrieb Simmel.

Man will doch oft einfach seine Tür hinter sich zumachen und nichts mehr hören. Das Leben in der Großstadt mag kalt und gefühllos erscheinen, aber anders ist es vielleicht nicht lebbar. Wer sich da nicht einordnet, fällt störend auf. Zumal wenn er etwas wahrnimmt, das niemand sonst wahrnimmt.

Ein Geruch, den nur Dirk B. riecht

Am Abend des 9. Januar 2017 führt einer von Dirk B.s Anrufen bei der Polizei schließlich zum ersten Mal zu mehr als Stirnrunzeln und genervtem Abwiegeln. Zwei Polizisten kommen. Für sie ist es zunächst nur eine Beschwerde wegen Geruchsbelästigung, aber was der Anrufer erzählt, finden sie merkwürdig. Den Mann, der dort wohne, habe er seit Jahren nicht gesehen, aber der Stromzähler im Keller zeige stetigen Verbrauch an. Außerdem habe er den Briefkasten des Nachbarn häufiger mit Papier vollgestopft, das sei am nächsten Tag immer weg gewesen.

Als die Polizisten sehen, dass im Türschloss ein Nagel steckt und der Spalt zwischen Rahmen und Wohnungstür mit Silikonmasse verschmiert ist, finden sie auch das komisch. Dass Dirk B. die Tür selbst manipuliert hat, erfahren sie erst später. Er habe irgendetwas unternehmen wollen, um dem Geheimnis der Wohnung auf die Spur zu kommen, erzählt B. vor Gericht.

Die Polizisten stellen eine Vermisstenanfrage. Die ergibt, dass niemand mit dem Namen und der Anschrift des Rentners gesucht wird. Trotzdem rufen sie die Feuerwehr. Die schickt zwei Männer, die das gekippte Badezimmerfenster der Hochparterrewohnung aufhebeln.

Die Polizisten sehen sich in der Wohnung um, an der Innenseite der Küchenschranktür hängt ein Jahreskalender von 2007, alte Zeitungen liegen herum, die Toilettenschüssel ist ausgetrocknet. „Nicht wirklich was Verdächtiges. Es sah aus, als sei jemand weggegangen, ohne viel mitzunehmen“, erzählt einer der Polizisten.

Blick in die Tiefkühltruhe: „Hier isser“

Die Männer wollen schon wieder gehen, als einer den anderen fragt, ob er schon in die Tiefkühltruhe geschaut habe, die in der Küche steht. Mache er routinemäßig bei älteren Leuten, um zu sehen, ob die genug Lebensmittel im Haus haben. Er stellt einen Kerzenleuchter beiseite, legt ein Deckchen weg und klappt den Deckel auf. Drinnen sieht er rosafarbene Plastikplane, obendrauf Früchtequarkbecher und Scheibenkäse. Die Plane schneidet er auf, nickt dem Kollegen zu und sagt: „Hier isser.“ In dem Sack: blutverschmierte Kleidung, eine Hand, ein männliches Geschlechtsteil. Darunter drei weitere Säcke. Heinz N., verpackt und eingefroren.

Ob es in der Wohnung schlecht gerochen habe, will der Vorsitzende Richter wissen. Bis auf den Zeugen B. hat niemand einen unangenehmen Geruch wahrgenommen, die Polizisten nicht, die Feuerwehrleute nicht, der Mann von der Hausverwaltung auch nicht.

Als B. die Polizisten in seine Wohnung führte, ein Stockwerk weiter oben, habe es dort vor allem nach Putzmittel ge­rochen, erzählt ein Polizist, aber B. habe selbst dort den Gestank vernommen. Ungelüftet, „nicht nach Verwesung“, sagt B., denn er wisse, wie das rieche. Als er noch in Rostock gelebt habe, habe er mal eine verweste Leiche im Haus entdeckt.

Ein rätselhafter Mensch, dieser B. Er hat etwas gerochen, was niemand sonst roch. Er nahm es so stark wahr, dass er alles Mögliche dagegen unternahm. Es gibt die Kraft der Einbildung, aber so?

Eine nächtliche Begegnung

Vor dem Leichenfund hört B. nachts einmal Gerumpel aus der Wohnung des N. Da hat er N. schon lange nicht mehr gesehen, er denkt: „Da muss einer rumschleichen.“ B. klingelt an der Wohnungstür, ein Mann öffnet. Es ist Josef S.

In diesem Moment stehen sich die zwei Personen gegenüber, zu denen das Mordopfer zuletzt Kontakt hatte. Der eine, der ihn gesucht hat, und derjenige, der ihn mutmaßlich umgebracht hat.

Ob er das nicht auch rieche, hier stinke es doch „wie im Alfred-Brehm-Haus“, sagt Dirk B. zu dem Mann, wie im Raubtierhaus des Ostberliner Tierparks. Nein, antwortet der Mann, er rieche das gar nicht, er arbeite im Altersheim, habe sich an den Geruch älterer Menschen gewöhnt. S. führt B. durch die Wohnung. „Sehr düster“ findet es B. dort. Josef S. verspricht, regelmäßig zu lüften.

Wo denn der N. sei, will B. wissen. Der könne sich nicht um die Wohnung kümmern, das mache er nun. Ganz ruhig und freundlich habe der S. das gesagt, erzählt Dirk B. vor Gericht.

Andere im Haus hatten gehört, der Nachbar sei nach Dresden oder nach Westdeutschland gezogen. Er lebe in einem Pflegeheim, habe es mit den Knien. Einer wunderte sich: Warum gibt er dann die Wohnung nicht auf, wo doch so viele in Berlin eine suchen? Nur ist er der Frage nie nachgegangen.

Ein Hohlraum hinter der untersten Kellerstufe

Josef S. hört sich das alles in großer Ruhe auf der Anklagebank an. Er sitzt da, stets im dunklen Sakko über dunklem Hemd, der Kinnbart wird von Sitzungstag zu Sitzungstag voller. Einmal wird im Saal eine Leinwand aufgebaut, gezeigt werden Fotos vom Tatort. Manchmal blickt S. auf, schaut die Bilder an. Da ist der schmale Flur, ein einsamer Kleiderbügel an der Garderobe, Schirm und Hut. Im Badezimmer das Klo mit den seitlichen Armstützen, die Flasche 4711 auf der Ablage, in der Küche alte Anzeigenblätter auf dem Tisch, in einer Ecke die Tiefkühltruhe, der Staubsauger daneben.

Dann folgen Bilder der Wohnung des Angeklagten in der Langhansstraße, die im selben Haus liegt wie sein Trödelladen, nur wenige Gehminuten von der Wohnung des Mordopfers entfernt. Die Werkstatt mit einer Hantelbank, das ungemachte Bett, der Hohlraum hinter der untersten Kellerstufe, darin verborgen eine Netto-Tüte mit dem Reisepass von Heinz N. und seiner AOK-Karte, gültig bis 2017.

In dieser Tüte finden die Ermittler auch den Personalausweis einer Irma K., ihre Visa- und Krankenkassen-Karte. Von Irma K. fehlt seit dem Jahr 2000 jede Spur. Hat Josef S. auch mit ihrem Verschwinden zu tun? Als die Ermittler die Bankkonten von Heinz N. durchforsten, stellen sie fest, dass Irma K.s Rente von circa 900 Euro seit Jahren per Dauerauftrag auf das Konto von Heinz N. fließt, von dem sich Josef S. das Geld geholt haben soll.

Er ließ sich auch die Post für die beiden an seine Wohnanschrift nachsenden. Zwei Briefkästen hat er extra dafür neben seinem angebracht.

DNA-Spuren an den Säcken

Im Fall Irma K. wird noch ermittelt, die Leiche fehlt. Im Mordfall Heinz N. erfahren die Ermittler nach dem Öffnen der Tiefkühltruhe schnell mehr. Nach der Entdeckung verschließt die Mordkommission die Wohnungstür wieder und wartet. Am Abend des darauffolgenden Tages betritt Josef S. die Wohnung. Als er wieder herauskommt, wird er festgenommen. Spuren seiner DNA finden sich an den Säcken, in denen die Leichenteile verpackt waren.

Im Gerichtssaal blickt S. meistens nach unten, notiert etwas, blättert in Akten. Er sieht jetzt besser aus als zum Zeitpunkt seiner Festnahme. Fotos von damals zeigen einen etwas zerrupft wirkenden Mann in Holzfällerhemd und Bomberjacke.

Wenn es so war, wie es der Staatsanwalt darstellt, dann musste Josef S. zehn Jahre lang einiges tun, um vorzutäuschen, dass Heinz N. noch lebte. Also überwies S. die Miete, fälschte die Steuererklärung, leerte den Briefkasten, nahm die Papiere heraus, die der Nachbar Dirk B. hineingestopft hatte. Und immer wieder musste S. zurück an den Tatort, immer wieder sah er die Kühltruhe.

Freundlich, höflich, so beschreiben die Zeugen, die das Gericht geladen hat, Josef S. Das Ehepaar Lippmann zum Beispiel, das zu jedem Prozesstag aus Weißensee kommt. Sie kannten S., weil er häufig in ihrem Kiosk einkehrte. Bouletten hat er da gegessen, hausgemacht von Frau Lippmann, Herr Lippmann schenkte Kaffee aus. Wie ein Kasper sei S. aufgetreten, gut gelaunt, hilfsbereit. Als die Lippmanns eine Küche einbauten, hat er ihnen geholfen.

Dass sich einer so verstellen kann

Für sie war er „der Josef“, sagt Herr Lippmann. Jetzt wollen er und seine Frau verstehen, wer der Angeklagte offenbar noch war. Zu Prozessbeginn sagen sie, sie seien fassungslos, dass sich einer so verstellen könne. 15 Prozesstage später sagen sie, wirklich schlauer seien sie jetzt noch nicht geworden.

Geboren wurde Josef S. 1961 im polnischen Mikulczyce. Noch vor der Wende kam er in die DDR, lebte im Spreewald, arbeitete Anfang der neunziger Jahre in Duisburg bei einer Baufirma. Ein Arbeitskollege von damals erzählt, wie begeistert der Chef von S. gewesen war. Ungelernt, aber so umsichtig, dass er den Betrieb hätte übernehmen können, der Chef wollte ihn sogar mit seiner Tochter zusammenbringen.

S. aber zog es zurück nach Berlin. Er wohnte erst in der Naugarder Straße, war dort Nachbar von Irma K. Dann lebte er vorübergehend mit seiner Lebensgefährtin gegenüber von Heinz N. in der Hosemannstraße, zog schließlich in die Langhansstraße.

Niemanden hat es deshalb gewundert, wenn S. immer mal wieder in der Hosemannstraße gesehen wurde und in Haus Nummer 18 ging. Manche der Zeugen haben mit ihm in einer Spielhalle oder im Spätkauf an Automaten gespielt, er habe da auch mal mehrere Geräte gleichzeitig bedient, habe einiges an Geld verzockt, aber die psychiatrische Gutachterin, die sich das alles anhört, gewinnt nicht den Eindruck einer pathologischen Spielsucht. Das ist wichtig für das Urteil, der Angeklagte gilt als voll schuldfähig.

Von einer anderen Leidenschaft ist außerdem die Rede, einer kontemplativen: Mit Freunden ist Josef S. im Sommer gerne an brandenburgische Seen gefahren, zum Angeln.

Josef S., der Spieler, der Handwerker, der Angler.

Josef S., der Mörder?

Ein Mann verschwindet, ist einfach weg. Aber nach außen sieht alles aus wie immer. Man hat ihn ja sowieso nur selten gesehen. Er wollte Privatheit, suchte keinen Kontakt, seine Entscheidung. Die Hausärztin sagt, Heinz N. sei nach dem Tod seiner Frau keineswegs ein gebrochener Mann gewesen.

Lebensbescheinigung erst ab 95

Die Krankenkasse wundert sich nicht über einen alten Mann, von dem sie nie etwas hört, die Hausverwaltung bekommt stets die Miete, die Rentenversicherung überweist die monatliche Rente.

Noch vor ein paar Jahren mussten Rentner sogenannte Lebensbescheinigungen beibringen, aber der Aufwand sei zu hoch gewesen, sagt ein Sprecher der Rentenversicherung. Nun werde erst ab dem 95. Lebensjahr nachgefragt.

Claudia S., die langjährige Lebensgefährtin von Josef S., lief in den Jahren nach dem Tod von Heinz N. oft an dessen Wohnung vorbei. Als sie einmal eine Frage wegen des Gartengrundstücks hatte, das sie von dem alten Ehepaar übernommen hatte, schrieb sie ihm, bekam aber keine Antwort. Der Vorsitzende Richter fragt, warum sie nicht mal bei ihm geklingelt habe. Sie sagt, sie habe zu viel mit ihrem eigenen Leben zu tun gehabt.

Das ist nichts, was man ihr vorwerfen könnte. Es ist das, was Georg Simmel die Reserviertheit des Großstädters nennt, „infolge derer wir jahrelange Hausnachbarn oft nicht einmal von Ansehen kennen“. Mit anderen Worten: Es ist normal in der Großstadt.

Während des gesamten Prozesses äußert sich Josef S nicht. Nur der psychiatrischen Gutachterin hat er zu Beginn seiner U-Haft etwas gesagt: „Zehn Jahre Hölle sind genug.“

Und vieles deutet darauf hin, dass er diese Hölle, die er sich selbst geschaffen hatte, verlassen wollte. Die Wohnung von Heinz N. war zum 1. Februar 2017 gekündigt worden, mit der gefälschten Unterschrift des Toten. Im Wohnzimmer fanden die Ermittler zwei große Reisetaschen. Die Leichenpakete hätten hineingepasst. Dann rief Dirk B. die Polizei.

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