die steile these
: Fasten
ist ein
Tauchgang
nach
dem
Absoluten

Von Arno Frank

Ich war also zu fett. Für eine Weile, genau sieben fette Jahre, hatte ich das nicht wirklich bemerkt. Na ja, bemerkt hatte ich es schon. Nur wahrhaben wollte ich nicht, was zunehmend (!) nicht mehr zu übersehen war. 120 Kilo sind 30 Kilo zu viel, die spätestens beim Treppensteigen nicht zu unterschätzen sind. Aber hey, dann ging ich eben langsamer! Als aber mein Körper selbst mit stigmatisierenden Schweißattacken, beleidigenden Gelenkschmerzen und kränkendem Herzklopfen ganz übles fat shaming betrieb, war es nicht mehr zu leugnen. Ich war zu fett.

Was tun? Zuerst dachte ich daran, ein Blog zu etablieren. Empowerment! Mit bissigen Kommentaren über die tägliche Diskriminierung in der Umkleidekabine, derben Sprüchen wie „Ein Mann ohne Bauch ist ein Krüppel!“ und Selfies, auf denen ich mit passiv-aggressivem Schmollmund meine Speckrollen herzeige und damit Stereotypen den Kampf ansage. Früher oder später hätte das gewiss „in der Gesellschaft“ für awareness gesorgt, eher später, und bis dahin wäre ich vermutlich an Diabetes krepiert.

Es war dann mein pragmatischer Bruder, der mir diesen unsensiblen Vorschlag machte: „Wie wär’s, wenn du abnehmen würdest? Weniger fressen? Diät halten?“ Natürlich lachte ich ihn aus, bis mir der Schweiß auf die Stirn trat. Fasten? Ein altmodischer und zugleich sehr moderner Quatsch! Wait a minute …

Altertümlich, weil alle Weltreligionen das Fasten als zyklische Periode der Beschränkung kennen. Und wie jede gesellschaftliche Zwangsübung ist auch die verordnete Askese vor allem eine Übung in Heuchelei. Es sei denn, dem Fasten geht die private Einsicht voraus, dass da ein Zuviel ist, das abgebaut werden will. Ganz egal, ob eine minimalistischere Möblierung der Wohnung oder ganzheitliche Askese im Kloster angestrebt wird – der Zug zur Abrüstung, zum Weniger ist immer eine ganz persönliche und durchaus existenzielle Setzung. Und er strengt an.

„Abscheu vor sich selbst“: kein schlechter Antrieb

In früheren Zeiten war Beschränkung die Norm und ein voller Magen das Ergebnis von Jagdglück oder harter Arbeit. Heute ist es umgekehrt. Erstmals in der Geschichte der Menschheit sterben weltweit mehr Menschen an den Folgen allzu üppiger Ernährung als an Hunger. Und dennoch gilt in unserer modernen Gesellschaft der Fülle freiwilliger Verzicht als verdächtig. Nach kapitalistischer Logik strengt sich an, wer ein Plus erwirtschaften will. Wer seine Anstrengungen in den Dienst einer Reduzierung stellt und ein Minus anstrebt, hat einfach nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Schon an der Wiege der Moderne erklärte Immanuel Kant die mönchische Askese mit „abergläubischer Furcht oder geheucheltem Abscheu an sich selbst“. Für Arthur Schopenhauer war das Fasten schlicht „hochmütig“, Friedrich Nietzsche nannte es eine pharisäische Ideologie „miss­vergnügter, hochmüthiger und widriger Geschöpfe“. Zwar spotteten diese Philosophen über das religiöse Selbstpeinigungsbrimborium, ihre Urteile lassen sich allerdings unverändert auch auf das leistungsorientierte Selbstoptimierungsbrimborium unserer Tage anwenden. Wirkt denn der keuchende Jogger im Nieselregen nicht wie ein missvergnügtes, hochmüthiges und widriges Geschöpf?

Recht eigentlich ist die „Abscheu vor sich selbst“ kein schlechter Antrieb für Menschen, die ihrem Leben eine neue Richtung geben wollen. Denn das ist schließlich der Sinn des Fastens. Der Asket geht nicht für immer, sondern nur für eine Weile in die symbolische Wüste. Einerseits, um sich dort – religiös gesprochen – wie Jesus seinen Dämonen zu stellen. Andererseits, um als „ein Anderer“ geläutert daraus hervorzugehen. Neuerdings natürlich auch, um seine Fortschritte im Kampf mit den Dämonen in Echtzeit zu twittern oder auf Face­book zu teilen. Schon vier Kilo weniger! Seit drei Wochen ohne Kippe! Zwinkersmiley!

Modern ist das Fasten, weil es inzwischen als Wellness daherkommt. Sogar die gute alte Heuchelei ist sehr modern. Die Ideologie des Wettbewerbs findet schließlich im „resilienten Sport- und Outdoor-Typ“ (Stefan Gärtner) ihren höchsten Ausdruck, weil sie hier durch den Menschen selbst hindurch- und aus ihm hervorgeht – als vermeintlich freier Wille, der ein Wille zur Macht ist, getarnt als „Sorge um das Selbst“. Beschränkung als Boxenstopp im Rattenrennen.

Allerdings lassen sich solche Exzesse des Kontroll- und Effizienzwahns vor allem dann besonders bequem geißeln, wenn die eigenen Exzesse darin bestehen, gläserweise Erdnussbutter oder Nutella mit dem Löffel zu leeren. Die Verblendungen anderer Leute bleiben zwar Verblendungen. Aber was genau wäre denn dann mein regelmäßiger Griff in die Kartoffelchipstüte? Eine Auflehnung gegen die herrschenden Verhältnisse, und seien es auch nur die Gebote des Gesundheitssystems?

Ein Bekannter, beruflich wie privat ein echter Leistungsträger, verkündete neulich freudig erregt, er habe „über die Feiertage 30 Gramm abgenommen“. Was deshalb eine Nachricht war, weil an seinem durchtrainierten Marathonkörper schon vorher kein Gramm zu viel war. Seine Erfolgsmeldung wirkte, als würde ein Rennstall wie Ferrari nach der Winterpause verkünden, dass es ihm gelungen sei, weitere 30 Gramm an seinem Formel-1-Rennwagen einzusparen. So sehen Siegertypen aus, FDP-Wähler, die das Entsagen als sportliche Übung betrachten. Leute eben, die sich „fit machen“ für den Job, die Zukunft. Will ich das?

Auch in anderen Bereichen ist ein Weniger oft ein Schlüssel zum Mehr. Das gilt für den Minimalismus im Design wie für die Bewegung des Straight Edge, was nichts anderes als „nüchterner Vorteil“ heißt. Einen kompetitiven oder ideellen Vorteil sucht auch, wer digitales Detox betreibt, in Containern nach Lebensmitteln buddelt oder sich der masturbationsresitenten No-Fap-Bewegung anschließt. Danach macht’s umso mehr Spaß!

Mein Bruder hörte sich das alles geduldig an. Dann beugte er sich vor, tätschelte mir die Wampe und sagte nachsichtig: „Alter, das mag ja alles sein. Aber du bist zu fett. Du schnaufst beim Schlafen. Ich mache mir Sorgen um dich.“

Dann lud er mir eine dumme kleine App he­runter, die die Nährwerte dessen ermittelt, was ich so in mich hineinstopfte. Ich könne auch weiterhin alles essen, wonach mir der Sinn stehe – nur eben maximal 1.400 Kalorien pro Tag. Sogar eine Fertigpizza wäre drin, aber dann eben nur diese eine Fertigpizza – und fertig. Säkulares Fasten also, mit angezogener Handbremse? Er zuckte mit den Schultern: „Nenn es, wie du willst. Probier’s aus. Mir zuliebe.“

Mit dem altmodischen Original haben die modernen Varianten des Fastens gemein, dass es Tauchgänge nach dem Absoluten sind? Es geht nicht um weniger oder mehr, sondern, in Abkehr von den Zumutungen der Fülle, um das Eigentliche?Das Gute? „Nein“, sagte mein Bruder milde: „Es geht darum, dass du … na ja, nicht stirbst. Okay?“

Ich war missvergnügt, hochmüthig und widrig

Zuerst war es anstrengend, mir über den Fett- und Zuckergehalt meiner Nahrung andauernd selbst Rechenschaft abzulegen. Ich war missvergnügt, hochmüthig und widrig. Nach einer Woche aber setzte etwas ein, was ich nicht Erleuchtung nennen will – es begann aber doch ein Bewusstsein sich zu regen, dass ich möglicherweise nicht nur Herr meiner Sinne, sondern auch meiner Pfunde sein könnte. Also tatsächlich Herr meines eigenen Schicksals.

Mit durchaus grimmigem Vergnügen an einer Macht, die aus dem Verzicht erwächst, erntete ich Woche um Woche Erfolg um Erfolg. Nicht theoretisch, sondern mit der Wucht des Faktischen – von der Tatsache, dass ich wieder in meine alten Jeans hineinpasste, bis zur Verblüffung meiner Tochter, die mich mangels Leibesfülle wieder mit ihren Armen umgreifen konnte.

Nach zwölf Monaten waren 30 Kilo weg. Aber das grimmige Vergnügen am Verbrennen überflüssiger Kalorien und dem Verschwinden alter Gewohnheiten blieb unverändert. Schwieriger als das Fasten selbst war es, damit aufzuhören. Der verführerische Sog zur Auslöschung hatte etwas durchaus Bedrohliches.

Kurz vor der abschüssigen Abzweigung zur Anore­xie habe ich dann doch noch den Weg aus der Wüste gefunden – weil mein Bruder wieder anfing, sich Sorgen um mich zu machen. Jetzt warten wir gemeinsam auf den Jo-Jo-Effekt.