Vielfalt hilft gegen Ungleichheit


VON OLIVER TOLMEIN

1987 erscheint aus heutiger Sicht als idyllisches Jahr. Es gab kein Hartz IV, kein Sozialamt mühte sich ernsthaft, Menschen mit Behinderung ins Heim zu stecken, weil die ambulante Pflege zu teuer war. Die Arbeitslosenquote war niedriger, die Zahl bewilligter Asylanträge höher. Lauschangriffe auf den Wohnbereich waren nicht legalisiert, und der Deutsche Herbst lag zehn Jahre zurück. Damals hatten Detlef zum Winkel und ich ein Buch veröffentlicht, das den Untertitel trug „Der Deutsche Herbst und der Konservativismus der Linken“. Nicht überraschend nahm die Frage, was mit „links“ gemeint sei, viel Zeit in Anspruch.

Linke sind – die „Linkspartei“ illustriert das heute eindrucksvoll – Linke zuerst einmal und manchmal eben auch nur mit Blick auf Rechte. Kohl, so wie er 1987 regiert hat, wäre in Bezug auf Schröder heute aber wohl trotzdem kaum sinnvollerweise als „Linker“ zu nennen – der Begriff bezeichnet also doch mehr als nur einen relativen Standpunkt. Daher hilft es zur Präzisierung wenig, das Links-rechts-Schema um die Unten-oben-Klassifizierung zu ergänzen.

Ein Bereich, in dem das Dilemma, politisches Handeln als „links“ beschreiben zu können, in den letzten Jahren offensichtlich geworden ist, ist die Biomedizin. Unter den Parteien hat nur die FDP in den Fragen von Abtreibung über Euthanasie und Pränataldiagnostik bis zu Stammzellforschung einen einheitlichen, liberalen Standpunkt: Was beliebt und machbar ist, soll der Staat nicht regulieren. Der Leitbegriff liberaler Bioethik heißt Selbstbestimmungsrecht. Das klingt auch für viele Linke gut, die sonst Guido Westerwelle was husten würden.

Nicht wenige eingefleischte Konservative, denen Deregulierung im Arbeitsrecht und im Sozialversicherungssystem sonst das Tor zur Freiheit ist, stehen dem Wunsch-Koalitionspartner ihrer Kanzlerkandidatin dagegen eher feindlich gegenüber – wegen dessen Bestrebungen, auch im Bereich des Lebensendes zu deregulieren und Sterbehilfe in weitem Umfang zu legalisieren. Die Verwirrung der Fronten setzt sich im außerparlamentarischen Bereich fort: Emma steht hier Seite an Seite mit trotzkistischen Aktivisten und dem Euthanasieverfechter und Affenschützer Peter Singer; und gegen Krüppelfrauengruppen, deren Aktive ihre Namen auf Unterschriftenlisten neben denen strenger Katholiken wiederfinden.

Bei genauerem Hinsehen sind neben den Gemeinsamkeiten und Gegensätzen aber auch Differenzierungen auszumachen. Auch in der bioethischen Debatte gibt es Positionen, die sich nach althergebrachter Sortierung und Stückelung als linke Positionen beschreiben lassen.

Ausgangspunkt einer solchen Position ist der Gleichheitsgedanke, der verbietet, menschliches Leben unter Leistungsgesichtspunkten oder nach anderen Kriterien in rechtlicher Hinsicht zu differenzieren und zu selektieren. Ergänzt wird dieser Ansatz durch die Anerkennung von Differenz: Gleiche Rechte zu haben und Gleichbehandlung einzufordern, setzt keine Nivellierung voraus und keinen Verzicht auf Eigenheit. Daher ist diesem Denken auch das Streben nach Optimierung fremd: Es ist ja gerade die Vielfältigkeit, die das Besondere des Lebens ausmacht – was könnte da ein denkbares Ziel von Optimierung sein? Dass dieser Punkt sich als kompatibel zu bestimmten christlichen Vorstellungen erweist und sich auch als „lebensschützerische“ Position beschreiben lässt, steht ihrer Qualifikation als „links“ nicht entgegen: Es geht hier nicht um Wort- und sonstige schützenswerte Marken, geistiges Eigentum fällt eher in die Domäne der Deregulierer von der FDP, die hier auch mal regeln wollen.

Das Leben, das Bioethik-KritikerInnen so in seiner Eigenständigkeit und Nichtkalkulierbarkeit schützen wollen, wird im Rahmen einer linken Position aber stets mit sozialen und gesellschaftlichen Bezügen gesehen. Das hat Konsequenzen für die Debatte über Abtreibung, in der neben dem Recht des Fetus, nicht wegen einer Behinderung selektiert zu werden, auch das Recht der schwangeren Frau steht, über ihren Körper zu verfügen. Auch wenn dem Slogan „Mein Bauch gehört mir“ entgegenzuhalten ist, dass es hier nicht um Eigentumsrechte am Körper geht, ist gleichzeitig die Forderung, eine Schwangerschaft zur Not auch zwangsweise aufrechtzuerhalten, keine akzeptable Gegenposition. Die Konflikte daraus sind nicht immer aufzulösen – es ist aber auch nicht „links“, ein Wertesystem zu präsentieren, das vorsieht, jeden Interessengegensatz schlüssig aufzulösen.

Die Konsequenzen reichen freilich weiter – es macht keinen Sinn, Gleichheit zu postulieren und deswegen gegen negative und positive Eugenik vorzugehen, im Alltag aber Ungleichbehandlung zu akzeptieren, weil sie Ausdruck der Privatautonomie ist. Eine linke Position, die Bioethik kritisch gegenübertritt, steht daher zwangsläufig für eine umfassende Antidiskriminierungsgesetzgebung und belässt es nicht dabei. Leben, das geschützt wird, muss auch die Chance zur Teilhabe haben – und das ist mehr und etwas anderes als nur die Abwesenheit von Benachteiligung. Gesellschaftliche Teilhabe ist kein einseitiger Akt, mit dem die Gesellschaft nur einen Platz etwas außerhalb des Schattens gewährt. Wer teilhat, verändert auch das Ganze.

Charakteristisch für eine linke Position in der Bioethik-Debatte ist, dass sie nicht traditionellen fürsorglichen Strukturen verhaftet bleibt, dass sie nicht paternalistisch etwas auch „zulässt“, das gesellschaftliche Wertegefälle aber unangetastet lässt. Bioethik-Kritik und die sich als Konsequenz ergebende Vielfalt in der Gesellschaft ist nicht ein hinzunehmendes Ergebnis. Sie ist vielmehr Ausgangspunkt für eine Entwicklung, die ein hohes Potenzial hat, Ungleichheit zu überwinden und, zum Beispiel auch, Solidarität zu fördern.