G20-Anklage auf tönernen Füßen

Nico B. soll während des G20-Gipfels einen Polizeihubschrauber mit einem Laserpointer fast zum Absturz gebracht haben. Beweisen lässt sich das schwer, dennoch verbrachte er fünf Monate in U-Haft

Die Verteidigung wirft der Ermittlungsbehörde ein beispielloses Aktenchaos vor

Aus Hamburg Marco Carini

Zur linken Szene gehört Nico B. nicht und schon gar nicht zum „schwarzen Block“. Trotzdem ist der 27-Jährige derzeit vor dem Amtsgericht in Hamburg-Altona angeklagt, während des G20- Gipfels eine schwere Straftat gegen Polizeibeamte verübt zu haben. „Mordversuch mit Laser!“ lautete die Schlagzeile, mit der ein Hamburger Boulevardblatt den Familienvater vor Prozessbeginn zum Schwerverbrecher stempelte. Grundlage dieser „unerträglichen Stigmatisierung“, so Nico B.s Rechtsanwalt Oliver Klostermann, war ein Tatvorwurf der Staatsanwaltschaft, den diese inzwischen hat fallen lassen.

Nico B. soll am Abend des 6. Juli einen Polizeihubschrauber, welcher über der G20-Demo „Welcome to Hell“ kreiste, von einem Dachfenster mit einem handelsüblichen Laserpointer beschossen haben. Pilot und Kopilot wurden nach eigener Aussage von dem Laserstrahl am Auge getroffen, konnten die Maschine kurzzeitig nicht manövrieren, sodass diese knapp 100 Meter an Höhe verlor, bevor sie wieder unter Kontrolle war.

Das Gericht sah in der vergangenen Woche bei einer Haftprüfung jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass B. bei der ihm zur Last gelegten Aktion den Absturz des Hubschraubers billigend in Kauf genommen habe – der Vorwurf „versuchter Mord“ war damit vom Tisch. Anwalt Klostermann weist dabei darauf hin, dass es in den USA und Europa 7.000 Fälle gegeben habe, wo Piloten mit einem Laserpointer geblendet worden seien. Noch nie aber sei eine Maschine nach so einem Angriff abgestürzt oder ein Crewmitglied ernsthaft verletzt worden.

Zudem ist die Beweislage uneindeutig. Die Verteidigung wirft der Ermittlungsbehörde gravierende Fehler und ein beispielloses Aktenchaos vor. So sei die nächtliche Durchsuchung der mutmaßlichen Tatortwohnung am 8. Juli um 3.27 Uhr ohne richterlichen Beschluss erfolgt und zudem völlig unverhältnismäßig gewesen. Ein Rollkommando brach ohne zu klingeln die Wohnungstür auf und drang gewaltsam in die Wohnung ein – das bestätigte auch der Einsatzleiter der Polizei vor Gericht.

Auch ist es für die Verteidiger nicht nachvollziehbar, dass B. fünf Monate lang wegen Fluchtgefahr in U-Haft saß, bevor ihm Anfang Dezember Haftverschonung gegen Kaution gewährt wurde. Die Verteidigung moniert auch, dass in den Akten Vernehmungsprotokolle von Zeugen und andere Dokumente fehlten. Selbst die Vorsitzende Richterin räumt „Unregelmäßigkeiten in der Akte ein, in der auch Seiten fehlen“.

Die Verteidiger ließen durchblicken, dass sie es für nicht beweisbar halten, dass ihr Mandant den Laserpointer bedient hat. „Niemand hat ihn erkannt“, betont Anwalt Klostermann. Allerdings belastete seine Lebensgefährtin Nico B., als sie in einem Zeitungsinterview seine Täterschaft behauptete. Nico „war nicht bewusst, dass er jemandem schaden könnte“, versuchte die Mutter einer gemeinsamen Tochter ihren Verlobten zu verteidigen und fügte noch hinzu: „Es tut ihm furchtbar leid.“ B. selbst äußerte sich im Prozess nicht.

Vor Gericht wird auch seine Lebensgefährtin vermutlich schweigen: als Verlobte des Angeklagten und als mögliche Tatbeteiligte, die sich selbst belasten könnte, hat sie das Recht dazu. So bleibt sie eine „Zeugin vom Hörensagen“, deren Interview auch nur der Selbstentlastung dienen könnte. Reporterin und Reporter, die das Interview mit der Frau führten, haben sich nach taz-Informationen der Staatsanwaltschaft als Zeugen angeboten.

Damit setzt sich eine Zusammenarbeit zwischen Ermittlungsbehörden und Medien in der G20-Aufarbeitung fort. Sie nahm ihren Ausgang, als fast alle Hamburger Zeitungen die polizeilichen Fahndungsfotos von über hundert – teils minderjährigen – G20-Beschuldigten veröffentlichten. Es war eine der größten Öffentlichkeitsfahndungen der Nachkriegszeit.

Das Verfahren gegen Nico B. ist eines von vielen. 27 Verfahren gegen mutmaßliche G20- Straftäter wurden bereits abgeschlossen, 27 Personen bereits verurteilt, fast immer wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung und schweren Landfriedensbruchs. Vier Beschuldigte wurden bislang erstinstanzlich zu Haftstrafen zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Jahren verurteilt, die meisten Angeklagten aber kamen mit Bewährungsstrafen davon.

Gleichzeitig ermittelt das Dezernat Interne Ermittlungen (DIE) gegen 128 Polizisten – gegen über 100 von ihnen wegen Körperverletzung im Amt. Bislang aber wurde gegen keinen Beamten Anklage erhoben. Vierzehn weitere Verfahren wurden bislang eingestellt. Während 17 MitarbeiterInnen der DIE gegen Polizisten ermitteln, sind es 163, die für Ermittlungen gegen G20-StraftäterInnen abgestellt wurden.