Bebel im Schlafzimmer

Links ist man von Herzen und manchmal von Herkunft

von Katharina Rutschky

Seit ich wählen darf, habe ich keine Wahl ausgelassen und meine Stimme immer derselben Partei gegeben. Einmal allerdings habe ich es für klüger gehalten, zu splitten, um den kleinen Koalitionspartner zu stützen. Nur einmal war ich ernsthaft versucht, für eine neue Partei das Kreuzchen zu machen, bin am Ende dann aber doch wieder meinen Leuten treu geblieben. Wenn man so will, bin ich wirklich und wahrhaftig konservativ, wie alle meine Freunde.

Was andererseits nicht heißt, dass bei so viel Tradition am Wahltag Politik in unserem Leben keine Rolle spielt. Ganz im Gegenteil – kein Abendessen, kein Hundespaziergang, keine Geburtstagsfeier und ja, auch keine Beerdigung, wo irgendwann dann nicht auch noch mit Leidenschaft politisiert wird. Über den Irakkrieg genauso wie über Hartz IV, die Kita-Gebühren, das Antidiskriminierungsgesetz oder den Genmais.

So ist das eben, wenn man „links“ ist – immer kritisch, immer weiterdenken und auch mal ganz allein auch abseits stehen. Treue und Dankbarkeit gegenüber meinen Leuten – ob an der Regierung oder nicht – haben mich dabei nie davon abgehalten zu opponieren, wenn ich es nötig fand. In meinen Kreisen, unter meinen Freunden ist das nicht nur normal, sondern wird gefordert.

Dabei war und ist kaum einer meiner Freunde, so wenig wie ich selbst, in einer Partei Mitglied, gar aktives Mitglied. Man ist konservativ, weil man links ist. Vor Jahren gab es zur Kennzeichnung des Milieus und seiner Stimmung auch noch das unbestimmtere Attribut „progressiv“. Im Umfeld der Studentenbewegung und des sagenhaft gewordenen „68“ empfahl man sich untereinander Professoren, aber auch andere Unterstützer im gar nicht so geschlossenen Establishment mit dem Hinweis, der oder die sei doch ziemlich „progressiv“.

Heute kann man aber auch umgekehrt sagen, man ist links, weil man konservativ ist und sich Einsichten ebenso wie Errungenschaften, die zu unseren Lebzeiten durchgesetzt und jetzt schon so etwas wie Tradition bilden, auf eine elementare Weise verbunden fühlt. Die Fixierung auf eine herrschaftsfreie Kommunikation gehört dazu ebenso wie die Pflicht, die gesellschaftliche Entwicklung unentwegt kritisch zu begleiten, selbst dann, wenn man immer dieselben wählt.

Einer der beiden Frontmänner der neuen „Linkspartei“, nämlich Oskar Lafontaine, hatte 1999, nach seinem Rücktritt, einen Bestseller mit dem Titel „ Das Herz schlägt links“. Er plagiierte damit Leonhard Franks Autobiografie von 1952 „Links, wo das Herz schlägt“. Wäre ich Lehrerin geblieben und hätte nicht in den Beruf der Publizistin gewechselt, könnte ich das Buch gut gebrauchen, um in die deutsche Gesellschaftsgeschichte einzuführen und darüber aufzuklären, was linke Opposition einmal bedeutete und was sie heute bedeuten könnte.

Frank kam aus ärmlichsten Verhältnissen, war Maler, dann Schriftsteller und ein Pazifist des 1. Weltkriegs. In der Nazizeit natürlich verfolgt und Emigrant. Die Quintessenz und Erwartung seiner romanhaften Autobiografie war, „dass die Haben-haben-haben-Wirtschaftsordnung auch ohne Atomkrieg im Jahr 2000 abgelöst sein wird durch die sozialistische Wirtschaftsordnung.“ Behauptet jedenfalls das „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller“ (Bibliographisches Institut Leipzig, 1972), das ich immer gern konsultiere.

Nur der erste Teil dieser Prophezeiung hat sich erfüllt. Aus dem Kalten Krieg wurde kein heißer und der Staatssozialismus gehört der Vergangenheit an. Nicht nur die SPD, auch die Linke, in dem weitherzigen Sinn, den ich diesem Terminus gebe, muss sich aber heute fragen lassen, ob die betriebene Politik des „Wandels durch Annäherung“ nicht reaktionär war. Die Lage war anders, aber wenigstens so kompliziert wie heute. Egon Bahr, damals Pressesprecher von Willy Brandt in einem eingemauerten Berlin, gab die Parole aus. Gleichzeitig sorgte Herbert Wehner dafür, dass der linke Studentenverband, dem ich natürlich sofort beigetreten war, aus der SPD exkommuniziert wurde.

Schwer zu sagen, ob aus Neugier, Überzeugung oder dem Gefühl, dass sich etwas bewegen müsse, nahm der SDS Einladungen aus Polen und noch lieber aus Jugoslawien entgegen, das im Ruf stand, dem Sozialismus von oben einen von unten entgegenzusetzen. Ich bin dann damals doch nicht mitgefahren, weil ich in den Ferien ein Referat schreiben musste und mein Liebesleben auch noch durcheinander war. Die Genossen, so nannten wir uns, wollten mich bei meinen Eltern abholen, hatten aber alles Verständnis für meine Lage. Habe ich, weil ich seinerzeit gegen eine DDR ohne Anführungszeichen eintrat und damit natürlich auch einen autoritären Staat unterstützte, der deutschen Menschheit geschadet? Verrat begangen an demokratischen, menschenrechtlichen Idealen, denen ich ich doch sonst so feurig anhing?

Heute wissen wir alles besser, und auch die SPD bereut es zum Beispiel, die Bedeutung der Solidarność nicht erkannt zu haben, als sie Hilfe zu schätzen gewusst hätte. Allen alten Linken und jungen Weltverbesserern heute empfehle ich sehr, das Buch des jüngst verstorbenen Historikers Martin Malia zu lesen. Sich zu informieren, zu lesen und auf dem neuesten Stand der Debatten und Erkenntnisse zu sein – ist das nicht heute wie seinerzeit das Merkmal der Linken und Progressiven? Auf Deutsch heißt das Buch „Vollstreckter Wahn. Sowjetunion 1917–1991“ – richtiger der Originaltitel „The Soviet Tragedy. A History of Socialism“.

Heute kann man anders als früher sagen: Man ist links, weil man konservativ ist

Nicht nur im Großen und Ganzen arbeitet Malia post festum die Geschichte einer radikalen Gesellschaftsveränderung auf, auch im Detail kann jeder Weltverbesserer enorm profitieren. Die Welt zu verbessern, nicht bloß zu erhalten, ist eine Option der Linken und Progressiven immer gewesen. Die Überzeugung, Recht zu haben und deshalb auch das Recht beanspruchen zu können, taktisch und strategisch letztendlich über Leichen gehen zu dürfen – von dieser Illusion aus der Ferne kann jeden Malias Buch befreien.

Was Malia aber auslässt, ist die Alternative. Schon wahr, dass die SPD und die Linke oder jede neue fundamentalistische Opposition sich mit der Geschichte des Kommunismus auseinander setzen muss – aber wo waren damals die anderen, die Konservativen, die Rechten als der Gegenpol? Sie hatten keine Ideen, die die Zivilisation nach vorne zu bringen versprachen, allenfalls fatale wie den Nazismus in Deutschland. Vielleicht ist es das Verhängnis der Linken, dass sie keinen Gegner hat, der ihr intellektuell, aber auch auf einer elementaren, humanistischen Ebene gewachsen ist.

Die Konservativen sammeln sich ja immer noch gern unter den Werten, die die Linke angeblich nicht kennt und seit „68“ schon gar vernichtet hat. Falsch! Wir haben andere und reden nicht so viel darüber. Ich weiß, dass meine Großeltern statt des obligaten Jesusbilds Bebel in ihrem Schlafzimmer zu hängen hatten. Der SPD und ihrer Bildungspolitik habe ich auch fünfzig Jahre später mein Abitur und mein Studium zu verdanken.

Oft ist die Unterscheidung von links und rechts für überholt erklärt worden. Die CDU, Urfeind meiner Jugend, hat sich ja tatsächlich modernisiert, manche sagen sogar „sozialdemokratisiert“. Richtig fürchten müssen wir uns also auch vor einer Merkel-Regierung nicht. Es ist aber eine Sache aufzuholen, eine ganz andere, die Welt zu begreifen und nicht bloß zu verwalten.

Links ist man von Herzen und manchmal von Herkunft, aber wenigstens ebenso sehr mit dem Kopf. Vielleicht ist „links“ im Kern die Neigung zum Grübeln und Rechthaben, was die Weltverbesserung betrifft. Links war und bleibt immer extra: Große Hoffnung, strenge Prüfung und härtestes Urteil – und das alles unter eigentlich Gleichgesinnten. Das ist links.