In den Schreckenskammern der Macht

Erstmal die Ariadnefäden fest in der Hand halten, um später, zu gegebener Zeit, ein Tau daraus zu knüpfen: Der langjährige Stuttgarter Intendant Friedrich Schirmer bespielt ab sofort das Deutsche Schauspielhaus und setzt sich dabei bewusst und lustvoll der Gefahr aus zu scheitern

Abonnenten als unverzichtbare Stützen eines mutigen Spielplans

Interview: Petra Schellen

Er gilt als Autodidakt und Entdecker. Als einer, der auch dann noch – und oft zu Recht – an das Potenzial eines Künstlers glaubt, wenn das außer ihm keiner mehr tut: der neue Schauspielhaus-Intendant Friedrich Schirmer, der zwölf Jahre lang das Württembergische Staatsschauspiel Stuttgart leitete und das Hamburger Haus mit 36 Akteuren bespielen wird. Fünf davon – Marlen Diekhoff, Bernd Moss, Martin Pawlowsky, Jana Schulz und Samuel Weiss – stammen aus der Stromberg-Ära. Dessen letzte Spielzeit nahm die Zeitschrift „Theater heute“ übrigens zum Anlass, das Schauspielhaus zum „Theater des Jahres“ zu küren. Eine beträchtliche Hypothek für den Nachfolger.

taz: Herr Schirmer, warum sind Sie eigentlich nicht in Stuttgart geblieben? Es lief doch alles gut dort – und hier in Hamburg kann es nur schlimmer werden.

Friedrich Schirmer: Ja, das kann man natürlich fragen. Aber Sie könnten genauso gut fragen, warum ich nicht in meiner Geburtsstadt Köln geblieben bin – so ist das Leben eben, es treibt uns einfach weiter. Ich habe während der letzten 20 Jahre das unglaubliche Glück gehabt, in Baden-Württemberg Theater machen zu können, zwölf davon in Stuttgart. Vor genau zwei Jahren hat mir die Hamburger Kulturbehörde dann das Schauspielhaus angetragen. Und wenn man das angeboten bekommt, dann ist klar, dass man das macht, mutig und ohne Zögern. Hier zu arbeiten ist eine Ehre, wobei man sich ganz bewusst der Gefahr aussetzt zu scheitern.

Gab es seitens der Hamburger Kulturbehörde Vorgaben bezüglich der Auslastungszahlen? In Stuttgart lagen die ja zuletzt bei 90 Prozent...

Nein. Wieso auch? Dieses Haus ist doch paradox. Es ist monumental und intim, Opern- und Schauspielhaus zugleich. Theaterarbeit hier soll innovativ, aber auch populär sein. Wie macht man das?

Sie haben einmal gesagt, dass Ihr Programm durch Entschiedenheit und Verführungskraft überzeugen soll. Welches ist der rote Faden Ihres Spielplans?

Das wird sich finden. Ich ziehe es vor, erstmal loszugehen, meine Ariadnefäden fest in der Hand zu halten, um sie dann unterwegs zu einem festen Tau zu verknüpfen. Ein Theaterkonzept ist etwas sehr Lebendiges, das auf Impulse, Persönlichkeiten und Begegnungen reagiert. Ich setze auf Menschen, entschieden und langfristig. Ich habe einen inneren Seismographen, der mich spüren lässt, ob hier ein Talent wachsen kann.

Wie wollen Sie sich vom genauso lebendigen Thalia Theater abgrenzen?

Dass Ulrich Khuon und ich hier in einer Stadt sind, ist doch spannend. Ich darf hier noch einmal etwas Neues erfinden und muss mir gleichzeitig treu bleiben. Was für eine großartige Aufgabe, sich zwischen Thalia, St. Pauli- Theater und Kampnagel zu behaupten.

Ganz so groß scheint Ihr Vertrauen in die Verführungskraft Ihres Spielplans aber nicht zu sein. Sonst hätten Sie nicht – erstmals seit vielen Jahren in der Geschichte des Schauspielhauses – wieder auf Abos gesetzt.

Mit Angst hat das nichts zu tun. Auch das Thalia-Theater kann sich seinen mutigen Spielplan nur leisten, weil es so viele Abonnenten hat, die sich für eine bestimmte Anzahl Theaterbesuche an ihr Haus binden, bevor die Saison überhaupt begonnen hat. Die gesamte Nagel- und Gründgens-Ära wurde durch das starke Abonnement des Schauspielhauses getragen; erst in den Jahren des Umbaus zwischen 1979 und 1982 konnte dieser Stamm nicht mehr gehalten werden. Danach schien die Zahl von immerhin knapp 2.000 dem Intendanten Peter Zadek so gering, dass er die Abonnements endgültig abgeschafft hat. Frank Baumbauer hatte genau zehn Jahre später denselben Impuls wie ich heute, sie wieder einzuführen.

Da werden Sie wohl beim Thalia Abonnenten abwerben müssen.

Unsinn. Ich werde einfach meine Arbeit machen. Konkurrenz belebt das Geschäft.

Glauben Sie denn, dass die absolute Zahl der Theatergänger vermehrbar ist? Dass es gänzlich unausgeschöpfte Potenziale gibt?

Das kann ich jetzt noch nicht beantworten.

Aber mit Ihrem „Jungen Schauspielhaus“ im Malersaal versuchen Sie doch, ein solches Potenzial anzuzapfen.

Ich verfolge einfach konsequent den Ansatz meiner Vorgänger weiter. Schließlich haben sie die Marke „Junges Schauspielhaus“ geprägt. Wir bauen das nun zu einer zweiten Sparte aus. Mit eigenem Ensemble und eigener künstlerischer Leitung. Darüber hinaus planen wir als ständige Einrichtung ein großes Senioren-Theaterprojekt, angeregt durch Pina Bauschs „Kontakthof 3“.

Welchen Stellenwert soll das „Junge Schauspielhaus“ künftig innerhalb des Spielplans haben?

Wir wollen kein Nischenpublikum erreichen – nein, die Vorstellungen sollen auch abends zu sehen sein und den Inszenierungen im großen Haus durchaus Konkurrenz machen. Denn das Schauspielhaus braucht ein zweites theatralisches Herz! Wir suchen weitere Spielorte, deshalb bespielen wir nicht nur die Kantine wieder, sondern weiterhin auch das Rangfoyer. Einen Club in der Stadt suchen wir auch noch.

Ihr „Junges Schauspielhaus“ bedeutet eine starke Konkurrenz für die bereits bestehenden Jugendtheater Hamburgs.

Ich würde es anders formulieren: Durch uns bekommt die Kinder- und Jugendtheaterbewegung in der Stadt einen weiteren kräftigen Schub. Und abgesehen davon, dass ich hier von solidarischer Konkurrenz sprechen würde, war das erste Gespräch mit den anderen Kinder- und Jugendtheatermachern in dieser Stadt sehr ermutigend.

Könnten Sie sich vorstellen, im „Jungen Schauspielhaus“ Projekte wie „Hajusom!“ – Theater mit jugendlichen Flüchtlingen – zu beherbergen?

Das kann ich mir durchaus vorstellen. Nicht umsonst eröffnet Klaus Schumacher die erste Spielzeit des „Jungen Schauspielhauses“ mit Ad de Bonts Mutter Afrika, einem Stück, das die Ausbeutung dieses Kontinents und seiner Menschen zum Thema hat.

Was schätzen Sie eigentlich am selten gespielten Hans Henny Jahnn, dessen Krönung Richards III. Sie Ende Oktober präsentieren werden?

Die Beschäftigung mit Jahnn ist jedenfalls in Hamburg ein absolutes Muss. Jedes Haus hat neben seinen theatralischen Geheimnissen auch seine offensichtlichen Hausautoren. In unserem Falle heißt er Shakespeare. Und wenn man weiß, dass auch Jahnn einen Richard III. verfasst hat, kommt an der Verbindung von Shakespeare und Jahnn einfach nicht vorbei. Jahnns Fassung ist direkt den Schreckenskammern der Macht entsprungen und in Hamburg noch nie gezeigt worden. Parallel dazu zeigen wir eine Macbeth-Variante von Marc von Henning und nehmen Puchers Othello – die Inszenierung der Saison – wieder auf.

Es scheint, als behagten Ihnen diese monumental-finsteren Stoffe ganz besonders.

Och, das scheint nur so. Aber sagen wir mal: Die Schrecknisse der Welt finden darin ihren genauesten Ausdruck.

Wo liegt Ihre eigene theatrale Heimat?

In mir selbst – und an dem Theaterort, an den mich das Schicksal verschlägt. Im immer wieder neuen Versuch, mit mir und meinem Theater in einer Stadt auf Zeit heimisch zu werden. Nun also für die nächsten Jahre Hamburg, das Meer, die Elbe und dieses Theater in seinem Habsburgischen Glanz.