„Ich habe noch nie eine gelöst“

Die CDU will die Bahnsteigkarte am liebsten abschaffen. Den grünen Verkehrspolitiker Martin Bill wundert, dass überhaupt noch ein paar Tausend dieser Karten pro Jahr verkauft werden. Ein Interview über Lenin, wieso es keine Revolution gibt und übers Schwarzfahren

Martin Bill

Foto: Jasper Ehrich Fotografie / Grüne

35, ist Rechtsanwalt und sitzt seit 2013 für die Grünen in der Bürgerschaft. Sein politisches Spezialthema Verkehr hat ihn schon immer interessiert. Dabei geht es ihm vor allem darum, die Alternativen zum motorisieren Individualverkehr zu stärken

Interview Gernot Knödler

taz: Herr Bill, die CDU möchte die Bahnsteigkarte beim Hamburger Verkehrsverbund (HVV) abschaffen. Wissen Sie, was Lenin zu dem Thema gesagt haben soll?

Martin Bill: Ich dachte immer, dass er gesagt hat: „Bevor die Deutschen eine Revolution machen, kaufen sie eine Bahnsteigkarte.“ Tatsächlich lautet das kolportierte Zitat: „Wenn diese Deutschen einen Bahnsteig stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte.“

Ziehen Sie sich den Schuh an?

Man kann sich das zumindest bildlich vorstellen.

Würden Sie auch eine Bahnsteigkarte ziehen? Immerhin sind Sie ja Jurist. Da hängt ein ganzes Berufsleben dran.

Ich selbst habe noch nie eine gelöst. Es erstaunt mich, dass überhaupt noch so viele gekauft werden.

Rund 8.000 waren es im vergangenen Jahr …

Bei rund 740 Millionen Fahrgästen ist das eine fast homöopathische Dosis.

Die CDU hat die Bahnsteigkarte als Ticket-Dino bezeichnet – nicht nett, oder?

Ich würde sie eher ein bisschen retro nennen.

Blamiert sich Hamburg mit der Bahnsteigkarte bei den Gästen des Weltkongresses zum Thema Intelligente Verkehrssysteme und Services, die 2021 in die Stadt kommen?

Nö. München hat ja auch noch eine.

Aber Hamburg will sich doch als besonders modern darstellen und mit dem elektronischen Ein- und Ausloggen in den Nahverkehr wird die Karte in Zukunft ohnehin obsolet.

Bis dahin dauert es ja noch eine ganze Weile. Die Argumente des HVV sind ja durchaus nachvollziehbar. Die Frage ist schlicht, ob man die Bahnsteigkarten noch zu Kontrollzwecken braucht.

Mit 30 Cent spielt die Bahnsteigkarte wahrscheinlich nicht mal ihre Herstellungskosten ein.

Das dürfte auch der Grund des Preises sein.

Ist es fair Schwarzsteher genauso hart zu bestrafen wie Schwarzfahrer?

Man kann da nicht differenzieren. Die Funktion der Bahnsteigkarte ist ja, dass man den Bahnsteig betreten und dass der HVV Abgangskontrollen machen kann. Sonst würde jeder Schwarzfahrer, der aus der Bahn steigt, und sieht, dass eine Kontrolle stattfindet, sagen: Ich bin gerade auf den Bahnsteig gegangen.

2015 saßen in Hamburg acht Menschen wegen Schwarzfahrens in Haft. Sehen Sie da Handlungsbedarf?

Der Führer der russischen Oktoberrevolution, Lenin, soll gesagt haben: „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“ Belegbar ist dieses Zitat jedoch nicht.

Ein belastbares Zitat gibt es dafür von Lenins Kampfgenossen Stalin (Werke, Bd. 13):

„Einst hatte man in Deutschland tatsächlich große Achtung vor dem Gesetz. Als der Berliner sozialdemokratische Vorstand für einen bestimmten Tag und eine bestimmte Stunde eine Kundgebung ansetzte, zu der die Mitglieder der Organisation aus allen Vororten erscheinen sollten, da konnte eine Gruppe von zweihundert Personen aus einem Vorort nicht zur Demonstration erscheinen, weil sie zwei Stunden lang auf dem Bahnsteig stand und es nicht wagte, ihn zu verlassen: der Schaffner, der die Fahrkarten am Ausgang abnehmen sollte, war nicht da, und die Genossen konnten daher ihre Karten nicht abgeben.“

Ich finde, dass Schwarzfahren nicht als Straftat geahndet werden sollte. Das ist doch Vertragsrecht.

Um noch einmal auf Lenin zu kommen: Ist der Weg zur Revolution frei, wenn es keine Bahnsteigkarten mehr gibt?

In Deutschland wird es so schnell keine Revolution geben, mit und ohne Bahnsteigkarte.

Wie werden Sie sich zu dem Antrag der CDU verhalten?

Ich komme jetzt aus dem Urlaub zurück und dann werden wir das in der rot-grünen Koalition besprechen.

Also ist noch offen, wie die Sache ausgeht?

Ja.