Berühmte Gänse: Nils Holgersson soll leben!

Die Gans gehört nicht auf den Teller, sondern bewundert: Im Film, in der Literatur oder als Publikum für einsame Musiker. Eine Ehrerbietung.

Zwei Gänse beim Schnattern

Gänserich „Schröder“ (l.), ehemals Doretta, schnattert neben „Frau Merkel“ auf dem Gelände eines Pflegeheims in Berlin (Archivbild von 2009) Foto: dpa

Aus Sicht der Gänse ist Weihnachten ein „schwarzer Schwan“ im Sinne des Wirtschaftsjournalisten Nassim Taleb: ein unvorhersehbares Ereignis. Sie werden das Jahr über gut gefüttert und dann sozusagen aus heiterem Himmel geschlachtet.

Außer, ein noch unvorhersehbareres Ereignis kommt dazwischen. Etwa ein Kind, das der Gans das Leben rettet – repräsentativ für alle anderen. So war es bei der Stieftochter Klara des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, der es im Jahr 2000 gelang, dass seine Weihnachtsgans Doretta „begnadigt“ wurde. Doretta kam dann zurück in eine LPG, und das Kanzleramt überwies ihr regelmäßig Futtergeld.

Als Schröder abgewählt wurde, war damit jedoch Schluss, woraufhin Doretta in den Streichelzoo eines Seniorenpflegeheims gegeben wurde. Inzwischen hatte man her­ausgefunden, dass Doretta ein Ganter war, weswegen man sie in „Schröder“ umtaufte und mit einer Gans verkuppelte, die „Angela“ hieß. 2009 starb Schröder an einem Lebertumor. Er wurde nur acht Jahre alt. Dabei können Hausgänse über 40 Jahre alt werden.

Sat.1 drehte sogar einen Film über Dorettas Fall: „Rettet die Weihnachtsgans“. 1988 hatte bereits die Defa das Leben einer Weihnachtsgans verfilmt, die ebenfalls von Kindern gerettet wurde: Auguste. Der Spielfilm hat keine reale Gans als Vorbild, sondern basiert auf einem Märchen des Schriftstellers Friedrich Wolf. Darin wird eine Gans von einem Ehepaar gekauft, deren Kinder dann ihre Schlachtung verhindern. Weil man schon angefangen hatte, sie zu rupfen, darf Auguste sogar bei ihnen unterm Federbett schlafen. Außerdem bekommt sie einen Pullover, damit der Sohn mit ihr in der Stadt spazieren gehen kann.

Eine weitere Gans, die in die Literatur Eingang fand, war die „Gans Nummer 5“ des schwedischen Tierfotografen und Schriftstellers Bengt Berg. Er lebte an der südschwedischen Küste und hatte dort 1926 sechs Gänseeier von einer Pute ausbrüten lassen. Als die Küken schlüpften, beringte er sie – mit Zahlen. Die Nummer 5 war die „kleinste, zarteste und schüchternste“, deswegen kümmerte sich Berg besonders um sie. Sie konnte bald, wie ihre fünf Geschwister, fliegen, zog es zur Vorweihnachtszeit jedoch vor, nicht in den Süden zu ziehen, sondern in Südschweden zu bleiben – auf dem Eis in der Bucht vor Bergs Haus, wo sie sich „eifersüchtig von einem großen kanadischen Gänserich bewachen ließ“, der nicht fliegen konnte.

Ein Nebenbuhler

Irgendwann flog die Gans Nummer 5 jedoch mit einem „jungen Graugänserich“ herum. Dieser durfte dem Kanadaganter nicht zu nahe kommen, also waren die beiden nur zusammen, wenn sie aus der Bucht herausflog. Ihr Nest baute die Gans Nummer 5 dann aber innerhalb der Bucht auf einer Schäre. Dort bewachte der alte Kanadaganter das Gelege. Er war wiederholt der Vater ihrer Jungen, die, sobald sie fliegen konnten, wiederum von ihrem Liebhaber behütet wurden.

Bengt Berg, Tierfotograf

„Die Nummer 5 war die kleinste, zarteste und schüchternste“

Als die Gans Nummer 5 beschloss, mit ihren Jungen über Weihnachten in der Bucht zu bleiben, flog auch der Grauganter nicht mehr in den Süden. So hatte sie das ganze Jahr über einen Ganter für den Boden und die Aufzucht ihrer Jungen und einen Ganter in der Luft für den Spaß.

Auf einem Bauernhof in Süddeutschland hingegen werden zu Weihnachten Ganter und Gans getrennt, wie ein Tierarzt im Internet berichtet. Es handelt sich dabei um eine „außergewöhnliche Gans“ namens Frieda: Vier Jahre zuvor war sie von der Bäuerin großgezogen worden. Diese holt Frieda morgens aus dem Gänsestall und nimmt sie mit in die Küche, wo die Gans etwas zu fressen bekommt. Danach geht Frieda in den ersten Stock und weckt die Kinder, die zur Schule müssen, anschließend legt sie sich neben den Hund und schläft zwei Stunden. Dann frisst sie noch einmal und macht einen Rundgang auf dem Hof.

Frieda liebt Betten

Am Gänsehaus begrüßt sie ihren Ganter. Es ist schon der dritte, denn die Ganter werden hier zu Weihnachten geschlachtet. Anschließend scheucht sie die Hühner herum. Wenn der Bauer mit dem Traktor in der Nähe ist, fährt sie bei ihm mit. Danach geht sie wieder ins Haus, wo sie versucht, sich in eines der Schlafzimmer zu verdrücken. „Sie liebt Betten.“ Und wenn man sie aus dem Bett schmeißt, wird sie wütend. Beleidigt verlässt sie dann das Haus und verzieht sich für die Nacht zu ihrem aktuellen Ganter. So sieht der Tagesablauf von Frieda aus, schreibt der Tierarzt.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Als einige Freunde und ich in den siebziger Jahren einen Resthof anmieteten, schafften wir uns auch Gänse an: Die sechs weißen Hausgänse führten ein autonomes Leben. Sie erkundeten tagsüber langsam und bedächtig das Dorf und die Wiesen drum herum und badeten im Dorfteich, meist hielten sie sich aber auf unserer Streuobstwiese auf, abends gingen sie in den Hühnerstall, wo sie gefüttert wurden.

An den Wochenenden besuchte uns oft ein Musiker. Mit seiner Konzertgitarre setzte er sich auf den Hofplatz. Während er leise anfing zu spielen, kamen die Gänse. Fast atemlos gruppierten sie sich im Halbkreis um ihn herum – die Hälse vorgestreckt. Ab und zu zogen sie sie zurück, steckten die Köpfe zusammen und zischelten leise. Danach streckten sie die Hälse wieder vor und hörten weiter schweigend zu.

Das war auf unserem Hof auch die einzige Funktion, die sie hatten: dass sie den Musiker als ebenso dankbares wie aufmerksames Publikum bei Laune hielten. Er hatte sonst keine Auftritte. Und wir gingen nicht so weit, die Gänse zu schlachten. Wir hatten alle als Kinder „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson“ (mit den Wildgänsen) gelesen und empfanden unsere sechs als eine besonders angenehme Gesellschaft.

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