Liebe deine Nächsten!

Weihnachten im eigenen Wohnzimmer kennt jeder. Wie aber feiern BerlinerInnen in Pflege­heimen, Notunterkünften oder in der Kneipe? Drei Hausbesuche

Besinnlichkeit in der Neuköllner Notunterkunft: Den Tannenbaum haben die Mitarbeiter und Geflüchteten gemeinsam geschmückt

Erinnern sich gern an die vielen Heiligabende ihres Lebens: die BewohnerInnen der Senioren-WG Fotos: Sebastian Wells

An Heiligabend lädt Wirt Micha (links im Bild) zehn Stammgäste zum Essen in die Villa Rixdorf, danach geht’s weiter in der Kindl-Klause

Erste Begegnung mit dem Nikolaus

„Es ist doch das Fest der Liebe. Damit müssen wir arbeiten“

Veronika Sufuentes

Von Raphael Piotrowski

Konzentriert schaut Zarif auf die Schere zwischen ihren kleinen Fingern. Dann schneidet die Siebenjährige – schnipp, schnapp – durch die blaue Pappe, vorsichtig, um nicht die Zacken der Schneeflocke abzutrennen. Gemeinsam mit den anderen Mädchen, alle im Alter zwischen sieben und zehn Jahren, bastelt die Tochter kurdisch-jesidischer Eltern an einem Freitagabend im Dezember fleißig Weihnachtskarten.

Weihnachtsvorbereitungen in einer Flüchtlingsunterkunft: Spielt das Weihnachtsfest denn hier überhaupt eine Rolle? „Ja natürlich“, betont Raphael Dütemeyer, Leiter der Notunterkunft im ehemaligen C&A-Geschäft in Neukölln. „Ob beim christlichen Weihnachten und Ostern, beim muslimischen Zuckerfest und Ramadan oder beim persischen Neujahresfest Nouruz“, zählt er auf, „wir feiern hier viele Feste gemeinsam und lernen dabei eine Menge voneinander.“

Als die Berliner Verwaltung 2015 nicht mehr wusste, wo sie die ankommenden Flüchtlinge unterbringen soll, wurden gut 600 Menschen in dem grünlich-verwitterten Betonklotz mit den verspiegelten Außenfenstern an der Karl-Marx-Straße einquartiert. Heute sind es noch 170 BewohnerInnen, 60 davon Kinder, die in durch Holzspanplatten abgetrennten, nach oben jedoch offenen Kabinen untergebracht sind. Einige Geflüchtete verbringen die Weihnachtszeit hier bereits zum dritten Mal.

„Die Mehrheit der Bewohner sind zwar Muslime, den Mitarbeitern und freiwilligen Helfern war es aber stets wichtig, den Bewohnern die Traditionen rund um die Advents- und Weihnachtszeit näherzubringen“, berichtet Dütemeyer, während er durchs Haus führt. Selbstverständlich wolle man niemanden missionieren, es gehe schlicht darum, den Geist der Weihnacht – eine besondere Stimmung – auch hier ins Haus einziehen zu lassen.

Auch wenn man die Besinnlichkeit nicht unbedingt an jeder Ecke des großflächigen Kaufhausgebäudes vermutet, man findet sie: Im Aufenthaltsraum des Erdgeschosses fällt der Blick auf zwei Tannenbäume. Mitarbeiter der Malteser und Geflüchtete schmücken sie gerade mit glänzenden roten, blauen und goldenen Kugeln und Lametta, während Kleinkinder um den Baum tollen.

In einer ehemaligen Damen­umkleide, ein Hinweisschild hängt noch neben der Tür, verzieren Zarif und die anderen Mädchen die ausgeschnittenen Schneeflocken nun mit Watte. Dann kleben sie die Flocken auf Karten mit Weihnachtsgrüßen, die, so erklärt es die ehrenamtliche Helferin Veronika Sufuentes, an alle ehrenamtlichen Helfer verschickt werden. Seit drei Jahren bemühen sich knapp 100 Neuköllner mit großem Einsatz, Ausflüge und Aktionen für die Kinder zu organisieren.

Während die Mädchen fleißig basteln, zeigt Sufuentes in einem Nebenraum die Geschenke. Vor den neugierigen Blicken der Kleinen unter Decken versteckt, lagern hier Fußbälle, Puzzle und andere Spielsachen, jedes Kind in der Notunterkunft soll zu Weihnachten eins der gespendeten Pakete erhalten.

In der Weihnachtsbäckerei“, laut singen die Mädchen im Bastelzimmer jetzt, „gibt’s so manche Leckerei. Zwischen Mehl und Milch“ – doch abrupt bricht der Gesang wieder ab, die Mädchen lachen, weil sie den Text der Strophe nicht weiter wissen. Beim Refrain setzen dann alle wieder ein, mit voller Kehle, die Fliesen der ehemaligen Umkleidekabine lassen die Stimmen nachhallen.

Zarif will jetzt noch eine Geschichte erzählen: „Letzte Woche, da habe ich den Nikolaus getroffen“, sagt sie, ihre Augen leuchten. „Wirklich! Der war supernett! Wir konnten sogar ein Foto mit ihm machen.“

Die erste Begegnung mit dem Nikolaus wird den Mädchen wohl noch lange in Erinnerung bleiben: Die Ehrenamtlichen rieten ihnen, am Vorabend des Nikolaustages ihre frisch geputzten Schuhe vor die hölzernen Zimmertüren zu stellen. Morgens waren sie mit allerlei Süßigkeiten befüllt. Als die Kinder dann am darauffolgenden Wochenende zusammen mit ihren Eltern und einigen HelferInnen einen Ausflug zum Rixdorfer Weihnachtsmarkt unternahmen, stand er da, der echte Nikolaus. „Die Kinder umringten ihn und fragten freudig, ob er bei uns in der Unterkunft war“, erzählt Veronika Sufuentes. Der Rixdorfer Nikolaus bejahte souverän – seitdem glauben viele der Jüngeren felsenfest an seine Existenz, glauben, an Weihnachten würde sein Geburtstag gefeiert.

Sufuentes ist sich indes sicher: Auch die muslimischen Eltern seien froh über die Zuneigung, die den Kindern gerade jetzt zur Weihnachtszeit geschenkt wird. „Es ist doch das Fest der Liebe. Damit müssen wir arbeiten“, resümiert die ehrenamtliche Helferin mit einem Lächeln auf den Lippen.

Der Geist vergangener Feste

„Weihnachten ist doch auch immer eine Frage der Erwartungshaltung“

Helga Agnes Drews

von Anna Klöpper

Morgen, Kinder, wird’s was geben! / Morgen werden wir uns freun! / Welche Wonne, welches Leben / Wird in unserm Hause sein; / Einmal werden wir noch wach, / Heißa, dann ist Weihnachtstag!

An einem dunklen Abend im Advent steht die Ehrenamtliche Gisela Kirschberg in der Senioren-WG eines Pflegeheims in der Kreuzberger Dieffenbachstraße und drückt gut gelaunt auf die Play-Taste ihres CD-Players.

Annemarie Kunstmann, 98 Jahre alt, schüttelt milde amüsiert ihre kinnlangen weißen Haare: „Das sind ja Kinderlieder!“ Sie setzt sich auf das rote Sofa in der Sitzecke ihrer WG, vor den kleinen Couchtisch, auf dem Tellerchen mit Kipferln und Mandarinenschnitzen stehen und Teetassen, aus denen es dampft: „Unglaublich penetrant dieser Glühweingeruch, nicht wahr?“, sagt sie, lacht leise in sich hinein und trinkt vorsichtig einen kleinen Schluck.

Einmal im Monat kommen zwei Ehrenamtliche in die Seniorenwohngruppe des Pflegeheims. Sie singen gemeinsam mit den elf Bewohnerinnen und lesen ihnen vor. Jetzt, im Dezember, wird daraus eben eine kleine Weihnachtsfeier. Gisela Kirschberg, die Ehrenamtliche, liest etwas Adventliches von Hans Christian Andersen; erstaunlich textsicher arbeitet man sich dann gemeinsam durch das einschlägige Repertoire an Weihnachtsliedern.

Einmal werden wir noch wach, / Heißa, dann ist Weihnachtstag!

Helga Agnes Drews sitzt am Tisch in der WG-Küche und schiebt den Vanillejoghurt vom Abendbrot beiseite. Weihnachten, sagt die zierliche kleine Frau mit den schwarz gefärbten Haaren, da sehe sie immer ihr Wohnzimmer vor sich, damals in der Akazienstraße in Schöneberg, wo sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lange Jahre gelebt habe. „Die Wohnzimmertür war aus Mattglas. Wir haben immer drauf geachtet, dass die Kinder nicht gelinst haben, bevor alle Kerzen am Baum brannten. Meine Mutter kam zu Weihnachten, mit ihrem zweiten Mann, und unser alleinstehender Nachbar mit seiner Gitarre.“ Das, sagt sie, „das war die schönste Zeit“.

Drews und ihre Mitbewohnerinnen, sie feiern an diesem Adventsabend vor ihren Glühweintassen weniger das kommende Weihnachtsfest als den Geist vieler vergangener Weihnachten.

Weihnachten, sagt Annemarie Kunstmann, das war die Christmette im Münchner Dom. Kunstmann ist erst vor Kurzem nach Berlin gezogen, weil hier inzwischen die Verwandtschaft wohnt, die noch übrig ist. „Glauben Sie’s oder nicht, Berlin war tatsächlich immer mein Lebenstraum“, sagt sie.

Früher, in München, ging es jedenfalls immer punkt Mitternacht in den Dom, und der damals kleine Sohn, der inzwischen schon gestorben ist, durfte dann lange aufbleiben.

Welche Wonne, welches Leben / Wird in unserm Hause sein.

Und dann? Dann sei das ganz normale Leben passiert, was sonst? „Keine Krise, nein, das nicht. Die Kinder wurden groß, jeder ging seiner Wege“, sagt Drews. Sie nimmt prüfend eine Kerze vom Couchtisch: „Sind die echt?“ Sind sie nicht, das Glimmern in dem vermeintlichen Wachsstumpen ist eine LED-Birne hinter mattem Plastik.

Als Helga Agnes Drews, 74 Jahre alt, gelernte Hutmacherin, später langjährige Chefin ihrer eigenen Drogerie in der Schöneberger Akazienstraße, vor ein paar Jahren einen Schlaganfall hatte, konnte ihre Tochter sich neben dem Job nicht auch noch um die Mutter kümmern. Drews zog in die Senioren-WG in der Dieffenbachstraße. Zu Weihnachten kommen ihre Kinder und die vier Enkel sie besuchen.

Das ist nicht selbstverständlich, sagt Hausleiterin Viola Kleßmann. Von den insgesamt 93 BewohnerInnen haben „ungefähr 15 niemanden mehr“. Nach Hause geholt würden ohnehin nur die wenigsten: „Viele unsere Bewohner sind dement und sehr pflegebedürftig, da fühlen sich viele Angehörige schnell überfordert.“

Weihnachten, sagt Kleßmann, sei mehr noch als sonst bei den Angehörigen „die Zeit des schlechten Gewissens“. Wie bezieht man die demente Mutter mit ein, sodass es für alle besinnliche Festtage werden?

Im Haus Bethesda ist Weihnachten hingegen schlicht ein Job, der auf viele professionelle Schultern verteilt wird: Die Küche bekommt den Auftrag „Kartoffelsalat und Würstchen“, die PflegerInnen bekommen den Auftrag, für die BewohnerInnen kleine Fünf-Euro-Geschenke für die große gemeinsame Bescherung unterm Weihnachtsbaum zu besorgen, der mit allen BewohnerInnen, die noch helfen können, gemeinsam geschmückt wird.

Ist das ein schönes Weihnachten? „Ach, wissen Sie, Weihnachten ist doch auch immer eine Frage der Erwartungshaltung“, sagt Drews. Also ja, sagt sie. „Ich finde, ja.“ Das Leben ist eben weitergegangen, was auch sonst?

Wisst ihr noch, wie vor’ges Jahr / Es am Heil’gen Abend war.

Weihnachtsessen mit Junggesellen

„Es gibt eben viel Einsamkeit. Da brauchste solche Orte“

Besucherin der Kindl-Klause

Von Malene Gürgen

Dunkel ist es draußen, kalt fegt der Regen durch den Herrnhuter Weg, eine kleine Straße, die von der Karl-Marx-Straße als trubeliger Einkaufsmeile in die dörflich anmutendende Richardstraße führt. Drinnen, in der Kindl-Klause, blinken die Dartautomaten mit der Weihnachtsbeleuchtung um die Wette, die warme Luft ist voller Zigarettenrauch. Eine Ecke des Raums hat, wie jeden Mittwoch, der Dartverein in Beschlag genommen, an den übrigen Tischen sammeln sich die Gäste vor frisch gezapften Bieren. Unter der Woche ist jetzt, am frühen Abend, Hauptbetriebszeit. Wer reinkommt, sagt erst mal Micha Hallo: Seit 1984 betreibt er die Kindl-Klause, und seine Gäste, sagt er, seien „zu 98 Prozent Stamm“.

Michael Hasucha ist 64 Jahre alt, die älteste seiner drei Angestellten 74, aber „fit wie nüscht“, sagt er. 1969 kam er nach Neukölln und fing als Lehrling im Eisenwarengeschäft Kiessling auf der Karl-Marx-Straße an, ein Traditionsbetrieb, der 1998 nach 108 Jahren Bestehen schließen musste, weil immer weniger Kunden kamen.

Die Kindl-Klause ist sein Hobby, sagt er, ein umfangreiches: Zehn Stunden am Tag ist er hier, 70 Stunden die Woche. Auf Einnahmen angewiesen ist er nicht, denn das Haus, indem er gleich um die Ecke wohnt, gehört ihm selbst, er vermietet dort Wohnungen. Aber die Kneipe trage sich selbst: „Wir überleben gut.“

So viel zum Geschäft, wichtiger ist Hasucha, der vor jedem seiner Sätze kurz abwägt und sie dann mit Nachdruck ausspricht, etwas anderes: „Hier gibt es keinen Stunk.“ Wer Ärger macht, fliegt, da kennt er keine Diskussionen. Meistens kommt es aber gar nicht erst soweit, denn Hasucha kennt seine Pappenheimer, sagt er, „’ne große Familie is dit hier.“

Da kommt Zustimmung von den anderen Tischen: „Man kennt sich doch seit Jahrzehnten“, sagt eine Frau, „jeder hilft sich hier gegenseitig.“ Umzüge würden gemeinsam gestemmt, wenn jemand ein paar Tage nicht auftauche, schaue einer von den anderen vorbei, ob auch alles in Ordnung sei – kam auch schon vor, dass dem nicht so war. Im Sommer werde manchmal gemeinsam gegrillt, wenn jemand seinen Kleingarten zur Verfügung stelle, meistens aber trifft man sich hier: Jeden zweiten Tag sei er hier, sagt der Mann am Nebentisch, viele noch öfter.

Bei vielen ersetzt die Kneipengemeinschaft, was sonst an Familie fehlt. Das gilt auch an Heiligabend, und deswegen hat Hasucha sich für diesen Tag etwas besonderes ausgedacht: Jedes Jahr schließt er am Nachmittag für exakt drei Stunden die Kneipe zu und geht mit zehn Stammgästen Essen, ein paar hundert Meter weiter in der Villa Rixdorf, auf seine Rechnung. Die Runde stellt er vorher zusammen: „Männer wie Frauen, aber nur Junggesellen, wer sich verlobt oder sonst was, den lad ich nicht mehr ein.“ Seit zwanzig Jahren macht er das so, viele sind schon lange dabei, andere kommen in diesem Jahr zum ersten Mal dazu.

Um Punkt 18 Uhr geht es dann zurück in die Kindl-Klause, darauf würden viele der übrigen Gäste schon warten. „Heiligabend ist hier immer gut Betrieb, das denkste gar nicht, wie viele da kommen.“ Auch diejenigen, die erst noch mit Familie oder Freunden feiern, kämen später am Abend oft zu ihm.

„Es gibt eben viel Einsamkeit in so einer Stadt“, sagt die Frau vom Nebentisch und klopft ihre Zigarette ab. „Da brauchste solche Orte, wo du ’ne andere Familie finden kannst.“ Zustimmendes Nicken und das nächste Bier, Berliner Kindl natürlich, dem hier nur von einem anderen Getränk der Rang abgelaufen wird: Goldkrone gehe weg wie nüscht, sagt Hasucha, gerne mit Cola als Futschi, für 20 Euro gibt es die ganze Flasche und Cola oder Fanta dazu „bis zum Abwinken.“

Über Politik würde in der Klause nicht viel gesprochen, sagt Hasucha. Er selbst wählt seit 30 Jahren CDU, aus Gewohnheit, mit der AfD brauche man ihm nicht zu kommen, und wenn hier ein Nazi auftauchen würde, würde er ihn rausschmeißen. „Punks können bleiben, die sind gemütlich.“

Viel verdienen würden seine Angestellten nicht, aber einmal im Jahr fahren sie zusammen in den Urlaub, auf seine Kosten, zwei Wochen lang. Fast immer in die Türkei, er würde ja gerne auch mal nach Norwegen, „in den Bergen kraxeln“, aber das mache der Rest nicht mit. „Die Türken“ seien schon in Ordnung, auch wenn ihm nicht gefällt, was aus der Karl-Marx-Straße geworden ist: „Früher war das mal die viertbeste Einkaufsmeile Berlins!“

Die Kindl-Klause will Hasucha noch so lange betreiben, wie er und seine Belegschaft es mitmachen. Was danach kommt, ist ihm egal, sagt er: „Ich verschenk den Laden auch, wenn sich wer geeignetes findet.“ Bis dahin aber hat die Kindl-Klause geöffnet, jeden Tag von 11 Uhr vormittags bis zum letzten Gast – außer an Heiligabend zwischen drei und sechs.