Die Welt, so wie YouTube sie sieht

In seinem Jahresrückblick zeigt YouTube seine erfolgreichsten Stars und Videos. Doch in der Auswahl fehlt einiges

War 2017 auch im Trend: der Fidget Spinner. Immer schön drehen Foto: Alessandro della Valle/Keystone/picture alliance

Von Tilman Baumgärtel

Für die Mehrheit der Weltbevölkerung mag es ein Nichtereignis sein. Aber für die Zielgruppe der Sechs- bis Vierzehnjährigen ist es erregender als die Olympischen Spiele, der Eurovision Song Contest oder der letzte Schultag vor den Ferien – oder vielleicht auch erregender als alles zusammen: YouTube Rewind für 2017 ist raus. OMG! LOL! #loveit

Seit zehn Jahren veröffentlicht YouTube im Dezember ein Video, in dem die erfolgreichsten Clips des Jahres in einem rasanten Kurzfilm zusammengefasst werden (rewind2017.with­you­tube.com). Das erinnert ein bisschen an die letzte, große Tanznummer in alten MGM-Musicals, wenn zum Schluss nochmal alle Register gezogen werden. „Influencer“ aus aller Herren Länder tanzen, hüpfen, lachen, singen, springen und grimassieren sich in gut sieben Minuten mit so einem Tempo durch die Choreografie und massig digitale Spezialeffekte, dass selbst die Zielgruppe kaum hinterherkommt. Aus Deutschland ist Julian Bam dabei, der unter anderem mit seinen Breakdance- und Musikvideos berühmt wurde und mittlerweile mehr als 4 Millionen Abonnenten hat. Der YouTube-Jahresrückblick war zwei Tage nach Veröffentlichung bereits 65-Millionen-Mal aufgerufen worden, mittlerweile sind es über 170 Millionen Abrufe.

Das Video ist ein verwirrendes Spiel mit so vielen Referenzen, Zitaten und Selbstbezügen, dass jeder Semiotiker daran seine Freude haben müsste – wenn er bloß wüsste, wer um alles in der Welt diese jungen Menschen sind, die sich da mit Farbbeuteln beschmeißen. Und warum sie sich das Gesicht mit Glitzersternchen voll geklebt haben.

Das ist Teil des Reizes – wie jede Jugendkultur lebt die YouTube-Szene davon, dass die Eltern keinen Durchblick haben. Doch da hilft YouTube gern aus: Auf der Website zum Video ist der Clip mit der Akribie eines Universitätsbibliothekars annotiert. Auf einer endlosen Liste finden sich alle Clips, auf die man sich bezieht, sowie uferloses Hintergrundmaterial. Ausgedruckt ergäbe das wahrscheinlich ein Taschenbuch.

Wie jede Jugendkultur lebt diese Szene davon, dass Erwachsene sie nicht verstehen

Wer sich hier schlau macht, versteht plötzlich wieder, worüber sich die Kinder beim Abendbrot unterhalten. Und warum 12-Jährige „The Floor is Lava“ brüllen, und dann auf das nächste Sofa springen.

Bei der Zusammenstellung ist zunächst einmal interessant, was in diesem Jahresrückblick nicht auftaucht: Die Amtseinführung von Donald Trump und die Wahl von Emmanuel Macron, katalanische Unabhängigkeitsbestrebungen und Brexit-Verhandlungen spielen im YouTube-Universum keine Rolle. Dies ist eine Welt, in der Fid­get Spinner und grüner Slime wichtiger sind als der Aufstieg von Bitcoin und die islamistischen Terroranschläge des letzten Jahres. Nur das Attentat auf das Ariane-Grande-Konzert in Manchester kommt kurz vor – aber wer einmal blinzelt, hat es verpasst, und die Party geht weiter. Ein Video der Sonnenfinsternis in den USA ist der einzige Berührungspunkt zwischen dem, was man in den traditionellen Medien für berichtenswert hält, und the world according to YouTube.

Selbst die YouTube-eigenen Ereignisse des letzten Jahres werden ignoriert: Dass YouTube neuerdings Beiträge „demonetarisiert“, also die Werbeeinnahmen vorbehält, wenn sie dem Unternehmen nicht in den Kram passen, findet selbstverständlich keine Erwähnung. Auch der Skandal mit den Animationsfilmen, die sich scheinbar an Kinder richten und dann mit verstörenden Szenen schockten, kommt nicht vor. Dabei hatten einige dieser Clips bis zu ihrer Löschung in der vergangenen Woche 25 Millionen Klicks und mehr. Sie müssten darum in den YouTube-Charts eigentlich ganz oben stehen.