Alles will größer scheinen

Singende Kaffeekannen, tanzende Ketchup-Flaschen: Was das Revueherz begehrt, wird in Mischa Spolianskys „Alles Schwindel“ von 1931 am Gorki Theater geboten

Simpel die Handlung: Mädchen trifft Junge, beide geben vor, andere zu sein – sind es aber vielleicht doch nicht Foto: Ute Langkafel/maifoto

Von Christiane Rösinger

So richtig out waren die zwanziger Jahre nie. Bilder und Lebensgefühl dieser verrucht-verrückten Berliner „Cabaret“-Zeit werden in nostalgischer Sehnsucht immer wieder zitiert und herbeigeredet. Seit ein paar Jahren erinnert man sich nun auch an die Unterhaltungsform der goldenen Zwanziger, an das Revuetheater. Die Unterhaltungskünstler*innen dieser Zeit fielen allerdings bereits in den bleiernen dreißiger Jahren den Nazis zum Opfer, sie mussten emigrieren, und mit ihnen verschwand das Genre von der Bildfläche, nur im Friedrichstadtpalast zeigte man noch Musikrevuen.

Zurzeit wird aber der bekannteste Revue-Komponist, der russisch-jüdische Migrant Mischa Spoliansky, von der Hochkultur wiederentdeckt. Spoliansky spielte man dieses Jahr in Dresden und in Mannheim, 2015 gab es ihn an der Berliner Staatsoper und an der Komischen Oper. Und nun auch im Gorki Theater!

Man tut es hier unter der Regie von Christian Weise mit einem neuen Zugriff aufs Thema und nimmt sich der Musikrevue als „queerer Mischung aus Operette, Jazz und neuer Musik“ an. Immerhin komponierte Spoliansky 1920 den ersten Schwulenschlager „Das lila Lied“, gewidmet Magnus Hirschfeld. Zur Uraufführung der Spoliansky-Revue „Alles Schwindel“ 1931 im Theater am Kurfürstendamm kam Marlene Dietrich aus USA angereist. Es soll Galastimmung geherrscht haben.

Galastimmung nicht gerade, aber durchaus freudige Erwartung war am Sonntagabend vor der Premiere im Gorki Theater zu spüren. Der erste Star des Abends ist das Bühnenbild von Julia Oschatz: Verwinkelt und verschachtelt wie das Set eines expressionistischen Films: Pappmöbel, schiefe Ebenen, gemalte Requisiten. Das Riesenguckloch im Hintergrund, eine Fotolinse, später auch ein Hamsterrad, wird zur 360-Grad-Leinwand und zeigt historische Fotografien vom Potsdamer Platz, gemalte Stadtansichten und gezeichnete Berliner Interieurs.

Die Musik kommt aus der Versenkung. Drei tragisch geschminkte Musiker spielen mit Leichenbittermiene heiter, beschwingt und jazzy die Spoliansky-Songs an Bass, Schlagzeug, Vibrafon, Piano und Synthesizer. Die Orchesterpartitur zu „Alles Schwindel“ ist im Krieg verbrannt, nur der Klavierauszug blieb erhalten.

Simpel die Handlung: Mädchen trifft Junge, beide geben vor, andere zu sein – sind es aber vielleicht doch nicht. Schon die Heiratsanzeige, über die sie sich kennenlernen, ist Fake News, und wo man hinkommt, sind Hochstapler, Betrüger, Wannabees am Start. Es ist ein Spiel mit Identitäten, manche Figur outet sich eher so nebenbei als schwul, dem Butch-Femme-Pärchen wird immerhin eine Szene lang ausdauerndes Küssen im Hintergrund erlaubt. Aufgeblasene Michelin-Männchen und Marshmellowmen gehen durchs Bühnenbild, alles will größer scheinen, als es ist. Die beiden jungen Hauptdarsteller Evelyne Hill (Vidina Popov) und Tonio Hendricks (Jonas Dassler) sind neu im Ensemble, sie spielen, singen, tanzen, steppen, krakeelen, als ob es kein Morgen gäbe. Jonas Dassler beherrscht die ärgsten Breakdance-Moves, schlägt Saltos, geht glatte Wände hoch und kassiert für seine artistischen Einlagen begeisterten Szenenapplaus. Die Revue­schlager werden erstaunlich gut gesungen – das Gorki ist ja immer noch ein Sprechtheater und das Ensemble hat nicht un­bedingt eine Gesangsausbildung.

Auch die Nebenrollen hat man hervorragend besetzt, insgesamt elf Schauspieler*innen können sich in jeweils fünf bis sieben Rollen austoben. Besonders Catherine Stoyan und Mareike Beykirch – als bärbeißige Berliner Klofrau und tram­pelig-gesichtsverrutschte Bar­schlampe sind phänomenal. Sie bringen eine zusätzliche Farbe ins Spiel: Die Burleske wird bedrohlich.

Es ist ein Spiel mit Identitäten, manche Figur outet sich nebenbei als schwul

„Alles Schwindel“ ist ein Vergnügen, auch wenn einiges an Sitzfleisch abverlangt wird. Trotz lustiger Gegenwartsbezüge, trotz der Figur des nervigen Expats, des unvermeidlichen Schwaben und dem Vorführen des Berliner Ruin-Chics, wird die Zeit zwischendurch lang. Aber die Revue steht nie still, es kommt immer wieder Schwung und Tempo in die Bude.

„Passt das wirklich ins Gorki?“, fragte sich manch einer nach dieser turbulenten Premiere, die mit ausdauerndem Applaus und einer Zugabe zu Ende ging. „Ist das noch postmigrantisch, postdramatisches Theater?“ Schon, wenn der Komponist ein russisch-jüdischer Berliner ist, der nach London emigrieren musste, und der Texter, Sohn eines jüdischen Holzhändlers, sich aus Angst vor dem aufkommenden Faschismus 1932 in Berlin das Leben nahm.

Und es ist doch auch eine Revue mit allem Drum und Dran: Mit Saxofonsolos aus Pappe, singenden Kaffeekannen und tanzenden Ketchup-Flaschen, Witz, Esprit, Glamour.

Wieder am 22. + 26. Dezember im Gorki