Debatte Chavisten in Venezuela: Das System lebt

Die landesweite Bürgermeisterwahl in Venezuela steht bevor. Trotz aller Krisen könnten die Anhänger von Präsident Maduro siegen.

Eine Bronzestatue vor einem Fluss

Da ist er: Ex-Präsident Hugo Chavez Foto: reuters

Venezuelas Gesellschaft nähert sich einem neuen Wahlgang. Mit einem Jahr Verzögerung werden am 10. Dezember landesweit die 335 Bürgermeisterämter neu gewählt. Und dies inmitten einer facettenreichen Krise. Allen voran eine lähmende Hyperinflation, die die Regierung von Präsident Nicolás Maduro unermüdlich dazu zwingt, immer neue Maßnahmen auszuprobieren. Erfolglos: Die Preise für ­Waren und Dienstleistungen steigen unaufhaltsam.

Erstaunlicherweise werden schon jetzt viele Ergebnisse zugunsten der Regierungspartei verkündet, also den KandidatInnen der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) und ihren traditionellen linken Verbündeten, die im sogenannten Gran Polo Patriótico (GPP) zusammengeschlossen sind. Diese Prognosen sind abgeleitet aus den Ergebnissen der Gouverneurswahlen im vergangenen Oktober, bei denen dem Chavismus-Madurismus der Triumph in 18 von 23 Bundesstaaten gelang – und der MeinungsforscherInnen, AnalystInnen und BeobachterInnen gleichermaßen die Kinnladen herunterkippen ließ.

Die Lust, Vorhersagen zu machen, ist allen vergangen. Alle waren davon ausgegangen, dass die dramatische soziale und wirtschaftliche Situation sowie die extreme Unsicherheit, die das ganze Land seit dem Zusammenbruch des Ölpreises auf den internationalen Märkten erlebt, sich bei den Wahlen als klare Ablehnung der Regierungspolitik widerspiegeln würde. Dagegen ist die Suche nach den Gründen für das geheimnisvolle Wahlverhalten im Oktober in vollem Gange. Niemand will sich wieder irren. Aber ein erneuter Triumph der Regierungspartei im Dezember könnte sich mehr auf die Fähigkeit der PSUV stützen, ihre Anhängerschaft mit der maquinaria zu mobilisieren, jener Maschinerie, über die die Oppositionsparteien nicht verfügen.

Dabei ist anzumerken, dass die traditionellen Wahlkampfpraktiken mit der Macht innehabenden Partei nicht verschwunden sind, sondern seit dem Amtsantritt des Chavismus im Jahr 1999 noch verschärft wurden. Tatsächlich beugt sich seither die ganze wirtschaftliche und staatliche Macht zugunsten der offiziellen Kandidaturen, oft ohne Scheu, Verschleierung oder jeglichem Respekt vor der Rechtmäßigkeit, noch im jedem Wahlvorgang bis heute. Die PolitikwissenschaftlerInnen mussten den Ausdruck „Wahlvorteil“ als Variable in ihre Wahlanalysen einbeziehen.

In jedem anderen Land mit institutioneller Reife wäre die obligatorische Teilnahme unverständlich, mit der in Venezuela öffentliche Angestellte mit roten Mützen und Jacken auf den ständigen Unterstützungsdemonstrationen für die Regierung marschieren, die zudem live von den öffentlichen und privaten Fernseh- und Radiokanälen übertragen werden müssen. Ebenso die Teilnahme der höchsten VertreterInnen der anderen Staatsgewalten, wie etwa die RichterInnen des obersten Gerichtshofs, die BeamtInnen des Nationalen Wahlrats bis hin zu den Kommandierenden der Streitkräfte. Dazu kommt auch das gesamte obere Management des hyperaufgeblasenen Verwaltungsapparats, zu dem zahlreiche autonome Institute, Staatsunternehmen und andere Einzelorganisationen gehören, die aufgrund irgendeiner Begünstigung dazu verpflichtet sind, mitzumarschieren. Einzige Ausnahme ist die Nationalversammlung, in der die Opposition die Mehrheit stellt.

Nach der Niederlage bei den Gouverneurswahlen im Oktober ist die Einheit der Opposition zerbrochen

Dazu kommt, dass nach der unerwarteten und vernichtenden Niederlage im letzten Oktober die Einheit, die die Opposition bis zu diesem Zeitpunkt gezeigt hatte, schmerzhaft auseinandergebrochen ist. Die Folge ist eine Zersplitterung, die nicht einmal die Chavistas erwartet hatten, und schon gar nicht in diesem Ausmaß. Viele stehen jetzt vor einem Panorama voller Varianten, von denen jede einzelne in schwer zu definierende Richtungen weist. Zu Anfang hatten einige der wichtigsten Parteien dazu aufgerufen, sich nicht am Wahlkampf zu beteiligen, da ihre Führungen mit großer Überzeugung die Wahlen im Oktober als betrügerisch bewertet hatten, aber dies noch immer nicht überzeugend beweisen konnten oder sich außerstande sehen, es zu tun. Auf jeden Fall treffen die Führungen der großen Parteien in ihren eigenen Reihen auf viel Widerstand und Rebellen.

Eine Million OppositionswählerInnen sind abwesend

Einige Mitglieder haben gar ihre Mitgliedschaft zurückgegeben, um auf eigene Rechnung zu kandidieren oder mit der Unterstützung kleiner lokaler Organisationen. Damit teilen sie den Stimmenanteil der Opposition und erhöhen die Chancen des Chavismus-Madurismus auf einen weiteren Triumph. Auch deshalb verkündete Vizepräsident Tareck El Aissami bereits die erneute Kandidatur des amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro bei der Präsidentschaftswahl 2018. Nach dem Triumph bei den Gouverneurswahlen fühlt sich die PSUV gestärkt und glaubt, dass der revolutionäre Geist des Volkes über den Katastrophen steht.

Einen nicht geringen Beitrag dazu leistet auch die Abwesenheit von fast einer Million OppositionswählerInnen. Es gibt keine genauen Zahlen über jene, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen ausgewandert sind. Dieses Phänomen hat die Alarmsirenen vieler Nachbarländer ausgelöst, angesichts der plötzlichen Probleme, die durch die Suche nach Wohnraum und Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen. All dies wird sich in den Geschichtsbüchern als objektives und unzweifelhaftes Zeichen der dramatischen Situation, der Venezuela seit einigen Jahren ausgesetzt ist, widerspiegeln.

Viele hoffen auf den „Dialog“, der an diesem Wochenende in der Dominikanischen Republik begonnen hat. Dort werden VertreterInnen von Regierung und Opposition darüber sprechen, wie politische Gefangene freikommen können, wie humanitäre Hilfe ermöglicht werden kann und wie transparente Wahlen garantiert werden können. Die Regierung verfolgt allerdings auch Ziele, denen die Opposition nicht zustimmen kann, wie die Abschaffung der Sanktionen und der harten finanziellen Maßnahmen der US-Regierung von Donald Trump.

Übersetzt aus dem Spanischen: Jürgen Vogt

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ist ein venezolanischer Jurist. Der 71-Jährige arbeitet als unabhängiger Journalist in Caracas. In seinen Analysen untersucht er das Zusammenwirken von sozialen, politischen und kulturellen Problemen seines Landes.

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