berliner szenen
: Ein Mann wie Michel Houellebecq

In Neukölln gibt es eine Bar, die sozusagen mein zweites Arbeitszimmer ist. Zumindest bis zum Feierabend, wenn sich die Bar in Windeseile mit lauten Leuten füllt. Dann ist es vorbei mit der Konzentration. Dann will ich auch lieber Wein als Tee trinken. Aber manchmal, so wie gestern, passiert es auch, dass eine einzelne Person meine Konzentration raubt.

Es war circa 16 Uhr, als ein Mann die Bar betrat. Seine unglaubliche Ähnlichkeit mit Michel Houellebecq ließ mich immer und immer wieder von meinem Laptop hochblicken. Auch die gekrümmte Haltung, die er im Sitzen einnahm, machte ihn in meinen Augen noch mehr zum Houelle­becq’schen Doppelgänger. Dann aber holte er aus seiner Tasche keinen Tabak hervor, sondern eine Brotdose. Ganz langsam griff er hinein und nahm ein belegtes Brot in die Hand, knabberte daran, während er gedankenverloren ins Leere starrte. Nein, so etwas würde Michel Houellebecq wohl nicht tun, zumal ich vermute, dass er sich hauptsächlich von Kippen ernährt.

Der Kellner fragte den Mann, was er wünsche. Der Mann packte schnell seine Stulle zurück in die Dose und die Dose zurück in die Tasche. Es schien, als ob er sich dafür schämen würde. Dann sagte er: „Heißes Wasser mit Zitrone.“ Als der Kellner ihm seinen Wunsch erfüllt hatte, holte der Mann aus seiner Tasche einen Teebeutel und steckte ihn ins heiße Wasser. Wenn er sich für seine Stulle schämte, warum schämte er sich dann nicht dafür, fragte ich mich und war nun ganz weg von meiner eigentlichen Arbeit.

Als der Tee abgekühlt und trinkbar war, kramte er wieder in seiner Tasche. Heraus kam eine E-Zigarette. Wäre er wirklich Michel Houellebecq, wäre er noch seltsamer geworden, aber dafür würde er mit Stulle und E-Zigarette gesünder leben, dachte ich und zwang mich zurück zu meinem eigenen Kram.

Eva Müller-Foell